Im Krebsgang

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Im Krebsgang

Wie der Berliner Choreograf Christoph Winkler seinen Tumor in Kunst verwandelt.
Author: Arnd Wesemann | Tanz | text in German only
14 November 2020

Wir treffen uns am Berliner Ostkreuz. Ganz in der Nähe lebt Christoph Winkler, mit Pflegetochter und seiner Freundin, der Tänzerin Zufit Simon, und ihren gemeinsamen Söhnen Noam und Ilay. Sie wohnen in einem der zahllosen Neubauten mit Blick aufs Wasser an der Rummelsburger Bucht, dem ehemaligen Zollhafen der DDR: auf einer abgerissenen Flaschenfabrik vor einem ehemaligen Palmöllager. Damals eine Kloake, beherbergt das Quartier am Spreeufer heute Tausende von Wohnungen, deren Fenster hinausgehen auf ankernde Jachten, Grillboote und Ausflugsdampfer. Ganz in der Nähe hat Winkler ein geräumiges Studio im ersten Stock am alten Hafengelände. Hier probt er gerade sein nächstes Stück, «It’s All Forgotten Now», über den britischen Pop-Philosophen Mark Fisher. Seine 65. Produktion als freischaffender Choreograf. Fein säuberlich dokumentiert seine Website die anderen 64 Produktionen aus den letzten 22 Jahren, alle äußerst nah an den pop-politischen Diskursen der Zeit, etwa von den Gogo-Tänzen 2006 über Urheberrechtsfragen («Dance! Copy! Right?», 2012) bis hin zu den postkolonialen Problemen in Uganda («A Hey A Ma Ma Ma!», 2019) – ein Fleißmeister, der wie alle großen Künstler in die Zukunft schaut, oder wie er berlinernd schmunzelt: «Bei mir stehen seit fünfzehn Jahren schwarze Menschen auf der Bühne. Plötzlich klopfen alle an: Willste nicht mal einen Diversity-Workshop geben?»

Die Farbe der Zellen

Aufmerksamkeit erregt er nun, weil er freimütig sein privates Leben zu einem Politikum erklärt. Seinen Lymphdrüsenkrebs, der das hochgenerative Knochenmark angreift, demonstriert die afroasiatische Tänzerin Lois Alexander aus Kalifornien in sehr spezieller Winkler-Art als Dokumentar-Tanztheater. Auf der Bühne tanzt unter einem Mikroskop eine Zellkultur. Projektionen rechts erinnern an die Afroamerikanerin Henrietta Lacks, die 1951 mit nur 31 Jahren an Gebärmutterhalskrebs starb. Sie wurde trotzdem berühmt, gleichsam durch einen Akt der medizinischen Aneignung, denn die (ohne Wissen der Patientin) dem Tumor entnommenen Zellen ließen sich im Reagenzglas vermehren– was bis dahin nicht gelungen war. Seitdem sind die nach Lacks benannten HeLa-Tumorzellen tonnenweise reproduziert worden und fanden unter anderem bei der Entwicklung des Polio-Impfstoffes Verwendung. Auf der Bühne links sieht man in Winklers Stück «On HeLa – The Color of Cells» Projektionen des leibhaftigen Christoph Winkler: als Krebspatient. Ein bisschen, sagt Winkler im Café am Ostkreuz, fürchte er schon den naheliegenden Vergleich mit Christoph Schlingensief. Der vor zehn Jahren verstorbene Regisseur und Aktionskünstler hatte seine Krebserkrankung als ergreifendes Spektakel voll tiefsinniger Gedanken zelebriert. Winkler will etwas anderes: den Krebs als gesellschaftliches Symptom und nicht als persönliches Schicksal beschwören.

2018 war‘s. Immer wieder haben ihn Fieberschübe und Schweißausbrüche übermannt, das sogenannte B-Symptom für Krebs, anstelle von Schmerzen, meist pünktlich um 16 Uhr. Trotz Paracetamol ließen die Attacken erst tief in der Nacht nach. Zehn Wochen lang Diagnostik in Leipzig und Berlin, ohne wirkliches Ergebnis. Das Blut schien unauffällig. Mehrfach entlassen, kehrt Winkler immer nur Stunden später in die Notaufnahme zurück, dehydriert und mit 40 Grad Fieber, bis man – mit dem Verdacht Non-Hodgkin-Lymphom – ganz zuletzt im Knochenmark fündig wurde, aber auch dort den Krebs nur vage bestimmen konnte. Man tat einfach so, als handle es sich um ein follikuläres Lymphom – einen Typus, der aus dem Kern des Lymphknotens stammt.

Riskant, denn jede Unterart braucht eine andere Antikörper- und Chemotherapie. Bevor die begann, erzählt der 53-Jährige, hat er sich in den Katakomben der Charité noch an einer Samenspende versucht. Zumindest diese Nebenwirkung der Therapie, unfruchtbar zu werden, war ihm bekannt. Aber er wusste nichts über die erhöhte Anfälligkeit etwa für eine Hirnhautentzündung, die er sich nach dem Abschwellen des Tumors zugezogen hat: bei einem Kinderstück, als 40 superjunge Superspreader ihm zur Seite standen.

Alle sind gleich vor dem Gift

Auch wenn ihm nach der sechsmonatigen Chemo die Haare nicht ausfielen und er heute auffallend gesund wirkt, wurden seine T-Zellen, wurde seine Immunabwehr bei der Therapie zu zwei Dritteln zerstört. Sport ist für den ehemaligen «Spartakiade»-Sieger aus dem sächsischen Torgau in den Disziplinen Gewichtheben und Judo, den Kampfsportler, den Bodyguard und Breakdancer, der an der Staatlichen Ballettschule Berlin studierte: ein Tabu. Covid-19 hin oder her, er ist extrem infektgefährdet und nicht über den Berg. Die Krankheit ist unheilbar, da die Antikörper-Therapie nie die Stammzellen der Lymphome, sondern immer nur die streuenden Zellen trifft. Sein Leben fühlt sich seither an, als sei er von morgens bis abends verkatert. Und sage niemand, dass Tanz nichts zur Bildung beiträgt. All die diagnostischen Irrungen und Wirrungen erfährt das Publikum auch vor der Bühne im Berliner Ballhaus Ost. Es lernt dort zudem Vokabeln wie Bendamustin, ein Mittel der Chemotherapie, besser bekannt als berüchtigtes, schwer ätzendes Senfgas, eine Kriegswaffe. Und es lernt, dass das mit dem Krieg kein Zufall sei. Politisches Wettrüsten fand nicht nur in der Mondfahrt und bei der Nutzung der Atomkraft statt, sondern auch in der Krebsforschung und heute etwa beim aktuellen Impfstoff-Wettrüsten. Viele Kollateralschäden sind bekannt, etwa im Fall von Henrietta Lacks, die fünf Kinder zurückließ. Diese haben nie einen Cent aus jenen satten Gewinnen erhalten, die die schnellwachsenden HeLa-Tumorzellen ihrer Mutter noch heute bringen. Ab 289,50 Euro kostet ein Milliliter. Voll mit drei Millionen Zellen. Lois Alexander, die Tänzerin auf der Bühne, hat die Erkrankung von Christoph Winkler hautnah miterlebt (und musste selbst einen Verdacht auf Brustkrebs zwischenzeitlich entkräften). Sie sah, wie er bei einem Gastspiel seines «Julius Eastman Dance Project» umkippte und zwei Tage lang im Koma lag, danach kaum sprechen konnte.

Diagnose: Hirnhautentzündung. Sein persönlicher Kollateralschaden, Folge der immunologischschwächenden Therapie. In seinem Umfeld starben unterdessen bereits zwei enge Kollegen an Krebs. Aktuell ist auch eine 25-jährige Tänzerin aus seiner Kompanie betroffen. Mit Lois Alexander hat er dieses Stück gemeinsam entwickelt: als anspruchsvolles Solo für lebenslustige Krebsgeister.

Christoph Winkler erzählt, dass «eine Krebsstation diverser ist als jeder Dancefloor. Alle Altersgruppen, alle Hautfarben, junge Frauen ohne Haare, Neuköllner Hipsterkünstler, die noch schnell ihre Ausstellung klar machen wollen, kraftstrotzende Russlanddeutsche, Afrodeutsche, hier die kurdische Mutter und dort ein Vietnamese neben dem britischen Manager. Sie alle sind gleich vor dem Gift, das sie verabreicht bekommen.» Ihre Rettung. Vielleicht. 200 000 Euro hat seine Therapie bis dato gekostet. Undenkbar, sagt Robert Ssempijja, sein Kollege aus Uganda, diese Summe in seinem Land aufbringen zu können. Versichert müsste man sein. In der Hauptstadt Kampala hilft ihm Christoph Winker, ein Tanzstudio zu bauen. Auch in den USA, so Lois Alexander, sterben Schwarze weit häufiger an Krebs als Weiße. Genetisch bedingt? Oder ist die Hauptursache das «Bad Weather Syndrome»? Schwarze werden deutlich häufiger als Weiße im Regen stehen gelassen. Man nennt das: strukturellen Rassismus. Henrietta Lacks ist die Kronzeugin. Für Christoph Winkler war ihr Schicksal der Weg, um seine Krankheit im Lichte derer zu verarbeiten, die deutlich schlechtere Karten haben als er.