Baader

Baader

Choreographie einer Radikalisierung

2011, Solo, 60 Min., 10 x 10 Meter

Über das Stück

Die Figur, fast schon die Ikone, Andreas Baader ist mittlerweile fest im kulturellen Gedächtnis der Deutschen verhaftet, trotz oder gerade wegen zahlreicher Überschreibungen durch kolportierte Geschichten und oft widersprüchlicher Aussagen von Gegnern und Sympathisanten. Ein kleinkrimineller Beau ohne Substanz mit Hang zur Gewalt, ein verwöhntes Muttersöhnchen, dem die Vaterfigur gefehlt hat, oder ein Mann mit allen Talenten zu einem bürgerlichen Politiker, wie einer seiner späteren Rechtsanwälte anmerkt, oder ein Charismatiker, von dem der spätere Generalbundesanwalt Rebmann sagte, er sei „ganz sympathisch“.

Fest steht: Andreas Baader war ein Meister der Selbstinszenierung. Diese Fähigkeit wurde zweifellos inspiriert von seinem Onkel Michael Kroecher, einem begabten und erfolgreichen Tänzer und späteren Schauspieler. Durch den Onkel, der für Baader zur wichtigsten männlichen Bezugsperson wird, erhält er nicht nur Einblick in das Leben eines schwulen Künstlers, sondern lernt sicher auch so praktische Dinge wie das Benutzen von Kajalstift und anderer Kosmetika kennen. Seine spätere Angewohnheit, sich selbst im Gefängnis zu pudern und zu schminken oder seine Vorliebe für maßgeschneiderte Kleidung (sogar seine Anstaltskleidung lässt sich Baader anpassen), mag hier seinen Anfang genommen haben.

Die Radikalisierung Baaders beginnt mit einem gewissen Hang zur Selbstdarstellung und dem Impuls, seinen Körper im „Interesse dieses narzisstischen Bedürfnisses einzusetzen – als Objekt der Bewunderung und des Begehrens, aber auch als Medium physischer Gewalt.“ (J. Herrmann)

Die Instrumentarisierung des Körpers zum ausführenden Werkzeug intellektueller Vorgaben, als „heiligste Waffe“ des Revolutionärs, führt Baader dann fort in den Strategien der Nahrungsverweigerung, einer beispiellosen Verwahrlosung in den Hafträumen, in der Kampagne gegen „Isolationsfolter“ bis hin zur provozierten Deutung des Selbstmords als „Murder Action“. Und es gelingt ihm so nicht nur, die Inhaftierten zu vereinen, sondern er aktiviert auch zahlreiche neue Kader für die RAF, um seinen Kampf fortzusetzen.

Diese radikale Hinwendung zum eigenen Körper, das strategische Einsetzen des Körpers in den diversen Selbstinszenierungen sogar über das eigene physische Ende hinaus macht die Person Baaders für eine tänzerische Annäherung interessant. Ein böser Körper?

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credits

Konzept: Christoph Winkler | Tanz: Martin Hansen | Licht: André Schulz | Kostüme: Lisa Kentner & Vivien Wanneck | Maske: Kathleen Kelly | Pressearbeit: K3 Berlin Produktionsdramaturgie: ehrliche Arbeit - freies Kulturbüro | Kamera: Walter Bickmann Tanzforum Berlin

Eine Produktion von Christoph Winkler in Kooperation mit dem Ballhaus Ost. Gefördert durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin - Senatskanzlei - Kulturelle Angelegenheiten Mit Freundlicher Unterstützung von Phase7.

Termine

Pressauszüge

[...] an dramaturgischer Dichte, tänzerischer Klasse und Inszenierungsintelligenz sämtlichen Konkurrenten voraus. Süddeutsche Zeitung

[...]Sie, die RAFAktivisten, besonders Baader, bleiben Inspirationsquell für eine politische wie künstlerische Aufarbeitung in Buch, Film, Theater. Nun greift auch der Tanz zu. Martin Hansen, der junge Australier mit internationaler Karriere, in Berlin ansässig, ist ein Glücksfall für den Choreografen. So könnte Baader gewesen sein, changierend zwischen Unschuld und Auflehnung, der, schon auf dem Boden, noch nach Form sucht, die Hand kokett in die Hüfte gestemmt, dazu stets schussbereit. Auf fünf Stoffbahnen, die Hansen entrollt, liest man Texte des Revoluzzers: gegen den US-Imperialismus, für die Revolution, mit der Stadtguerilla als bewaffneter Kampffront. Hansen tarnt sich da mit Perücke und Sonnenbrille. Keine Stabilität findet sein Tanz, wie Baader kein Leben fand, gestrauchelt zwischen Wollen und Wirklichkeit. Dann, zu gleißendem Licht, Baaders Stimme in Selbstverteidigung vor Gericht, in wirrer Rede wider die Bundesrepublik als Subzentrum der USA, gegen Vietnamkrieg und Aggression, sich zu einem „faschistischen Militärgerichtsprozess“ versteigend. Nur noch im Slip agiert der Tänzer, atmet flackernd, stürzt, findet nicht mehr Worte für das, was ihn bedrängt. Gefangen in kruden Theorien, wird er zum sprachlos kriechenden Tier. Seine Siegerpose, die Hände über dem Kopf, hat jede Glaubhaftigkeit eingebüßt, ist letzte Schutzhaltung eines Gescheiterten kurz vor jenem Suizid. Winkler und Hansen haben mit diesem physisch enorm zehrenden Ein-Stunden-Solo bewiesen, was zeitgenössischer Tanz zu leisten vermag, wenn er sich auf sich selbst besinnt: im ansonsten leeren, lichtgefüllten Raum nur durch körperliche Aktion von Selbstdarstellung bis Selbstzweifel Schichten einer Politpersönlichkeit freizulegen. tanznetz.de

Die Geschichte des Andreas Baader als Vorlage für ein Tanzstück? [...] Nun, Choreograf Christoph Winkler wählt einen klaren, überzeugenden Weg. Er reduziert auf das Nötigste und nutzt die Kraft verschiedener Medien. Die Biografie des RAF-Mitbegründers -vom vaterlos aufgewachsenen Münchner Jungen zum dandyhaften Bohemien in Berlin und charismatischen Bombenleger - ist vornweg auf zwei Flachbildschirmen in einem Loop mit 100 Baader-Bildern nachzuvollziehen. Unterlegt mit klassischer Musik, hat dies etwas gewollt Künstliches, ein bewusster Umgang mit dem Ikonografischen. Der Eindruck ist ein melancholischer, Coolness und Existenzialismus erinnern an die Stimmung der späten 60er Jahre, unter Verzicht auf eine sprachliche Kommentierung. Überzeugend nimmt der manchmal träumerisch und knabenhaft, manchmal fordernd und entschlossen wirkende Tänzer Martin Hansen diese Atmosphäre auf. Hansen kann mühelos solo diesen Abend bestreiten. Sein Spiel legt die androgyne Körperlichkeit des frühen Baaders bloß, der oft ausschließlich als Macker gelesen wird. Baader war nicht der Einzige, der damals Kajalstifte, Psychedelic Disco, "Krautrock" oder Filme wie Michelangelo Antonionis "Zabriskie Point" mochte. Fernab jegliches propagandistischen Auftrags, aber auch fernab von Beliebigkeit, verschränkt sich das körperlich-musische Element mit dem ursprünglichen Geist der früheren Revolte. Auszüge aus dem "Konzept Stadtguerilla" erinnern daran, dass die RAF einmal anders gedacht war, bevor sie in Floskelhaftigkeit und Dogmatismus erstarrte. "Dogmatismus und Abenteurertum sind seit je die charakteristischen Abweichungen in Perioden der Schwäche der Revolution in einem Land. Da seit je die Anarchisten die schärfsten Kritiker des Opportunismus waren, setzt sich dem Anarchismus-Vorwurf aus, wer die Opportunisten kritisiert. Das ist gewissermaßen ein alter Hut." Ach wunderbar, dies 2011, also vierzig Jahre später, als Kunstsprache auf heruntergelassenen Rollos im Bühnenhintergrund zu lesen, fantastisch. taz

[...] der Choreograph Christoph Winkler den Beweis erbracht, dass es möglich ist, Andreas Baader künstlerisch darzustellen, ohne in Klischees zu fallen. [...] das Tanzstück [ist] Kunst im besten Sinne des Wortes, die nicht die Verhältnisse und gängige Meinungen und Klischees nachplappern, sondern Möglichkeiten aufzeigt. der Freitag

[...] einen einstündigen Soloabend, der unter die Haut geht. Und sogar ins Hirn: Nicht die Ausnahmefigur Baader, sondern Baader als Jedermann tanzt hier auf. [...]fast revolutionär schön. Junge Welt

[...]Mein Wissen über Andreas Baader war vorher sehr bruchstückhaft und nach der knappen Stunde, die das Stück dauert, kommt es mir tatsächlich so vor, als hätte ich etwas gelernt oder verstanden, was auf eine andere Art, z.B. durch lesen oder Schauen von Videomaterial über Baader, nicht so unmittelbar zu verstehen ist. Martin Hansen tanzt das ganze ausgesprochen souverän. Ich bin ja spätestens seit Polina Semionova in Onegin ein Freund der präzisen Bewegung. Es ist bei Baader schwer zu sagen, was da genau durchchoreographiert und was improvisiert ist. Es ist auch nicht so wichtig, weil die Exaktheit der Bewegung so oder so da ist. Es gibt da keine sinnlosen Arm oder Handbewegungen, Blicke, Schritte selbst das scheinbar unkontrollierte unterliegen einem übergeordneten Prinzip, das letztlich die Struktur gibt und das am Anfang von jedem Teil des Stückes klar vorgestellt wird. Der Abend bietet für mich auf Anhieb drei Lesarten, die gleichzeitig passieren: erstens der intellektuelle Kontext, der abseits des Tanzes durch Fotos, Texte und Tondokumente hergestellt wird. Der Tanz an sich leistet zwei Dinge gleichzeitig: einerseits eine Charakterisierung Baader und die Erzählung der Biographie. Beeindruckend ist für mich die Ökonomie der Mittel, das alles läuft sehr auf das wesentliche beschränkt ab, kein unnötiger Firlefanz, keine Versuche, das Publikum zu beeindrucken, keine Anbiederung, sondern eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema. [...]Irgendwie ist es gut, ein Stück zu sehen, dass sich ernsthaft und ziemlich tiefgehend mit einem bestimmten Thema beschäftigt. Das Thema selbst – Andreas Baader – ist natürlich brisant und umso überraschender ist es dann, dass das ganze ohne moralische Wertung in die eine oder andere Richtung auskommt. Es geht nicht so sehr um ein politisches Statement, sondern mehr darum, einen bestimmten Menschen durch Bewegungen zu verstehen. Das erstaunliche daran ist, dass diese Herangehensweise einerseits eben spezifisch ist, aber gleichzeitig kennt man die Zustände, die durch die Bewegungen beschrieben werden auch von sich selbst und da bekommt das Ganze dann tatsächlich auf eine gute Art eine gesellschaftliche Relevanz. Es kommt mir tatsächlich sehr erhellend vor, diesen Teil der Geschichte mal nicht über den gesellschaftlichen Kontext verstehen zu wollen – was sofort eine entweder klassenkämpferische oder law and ordermäßige Tendenz mit sich bringt, sondern indem man versucht, über äußerliche Gesten in den Protagonisten hineinzukriechen und die innere Motivation, das Leiden und die Neurosen, aber eben auch das Normale daran, das jeder von sich und anderen kennt, sichtbar zu machen. Nun gut, Christoph Winkler hat irgendwie ein Talent dafür, Sachen zu machen, die ich ausgesprochen interessant finde. Argusschlaeft

In „Baader“ experimentiert Winkler mit dem Tänzer Martin Hansen, untersucht das „Böse“ als Tanz-Solo: Erst ist es nur ein stotterndes Aneinanderketten von kantigen, roboterhaften Bewegungen. Allmählich entwickelt sich daraus dann eine Choreografie, die kontinuierlich das „Böse“ formt: Hansens Körper wird zur Matrix für den charismatischen Terroristen Andreas Baader, der schillernden Führungsfigur der ersten RAF-Generation. Gestalt, Mimik und Gestik von Baader projiziert Winkler parallel zum Tanz als Fotoschleife mit Bildern, die das Leben des Topterroristen in nostalgischem Zeitraffer vorbeiziehen lassen. Hansen beantwortet die Frage, wie er sich denn so als Leihkörper für diese bösen Gesten fühlt, bündig mit: „I hate him“. Für Winkler ist Baader eine Person, die auf paradoxe Weise furchterregend und zugleich erotisch wirkte. Ein Dandy, der das Feilen an Aussehen und Auftreten zu politischen Zwecken perfektionierte. „Das Böse lässt sich nur über Personen darstellen“, sagt Winkler – am besten rein körperlich, wenn Story, Sprache und Setting reduziert sind. Zitty

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