Lazarus Sign

Lazarus Sign

2005, 9 TänzerInnen, 80 Min., 14 x 10 Meter

Über das Stück

In einem der bekanntesten Traditionals der Bluesgeschichte heißt es:

“Ain’t no grave can hold my body down. When the first trumpet sound, I’ll be gettin’ up, walkin’ round. Ain’t no grave can hold my body down.”

Das hier zitierte Motiv der Auferstehung durchzieht die Geschichte des Blues von Anbeginn an. Texte wie dieser finden sich zuhauf in allen möglichen Varianten. Ob es nun heißt “See that my grave is kept clean” oder schlicht “Poor Lazarus” Der Gott der einen verlassen hat rückt in weite Ferne aber das Schicksal und dessen Schläge sind real und werden im Blues unmittelbar verarbeitet. Die Auferstehungs- und Todesdramatik reicht dabei von den Trauerzügen in New Orleans bis zum Voodookult. Der Blues preist nicht wie der Gospel den Herrn, im Gegenteil im Blues zweifelt, klagt und trauert man.

Die Lazarus Thematik findet sich nun in einem anderen Bereich des heutigen Lebens wieder. Der Begriff Lazarus Zeichen bezeichnet sehr spezielle Bewegungen eines Menschen. Genau genommen sind es die Bewegungen eines Toten. Tod ist man nach der neuen, dem wissenschaftlichen Fortschritt angepassten Definition heutzutage nicht mehr mit dem Herz – oder Atemstillstand, der ja durch Beatmung und Reanimierung herausgezögert werden kann, sondern bei irreversibler Schädigung des Gehirns, dem Hirntod. Ein Grossteil dieser Toten neigt nun dazu sich zu bewegen, teilweise mit durchaus komplexen Bewegungsabläufen. Laut medizinischer Analyse handelt es sich um spinale Reflexbögen die ohne Hirn auskommen wobei es einer gewissen Abstraktion bedarf sich das vorzustellen wenn ein Toter, der vollkommen warm und durchblutet ist einem die Hand drückt oder umarmt. Diese paradoxe Situation brachte diesem Phänomen wohl den Namen Lazarus ein, wird man doch zwangsläufig an das Motiv der Auferstehung erinnert.

Der Grundansatz dieses Stückes wendet nun dieses Phänomen in eine Metapher: Die Lazarus Zeichen sind der Blues des Körpers befreit von der kognitiven Dominanz. Denn diese, ver-körpert durch das Gehirn, erklärt sich selbst zum alles entscheidenden Maß des Lebens und eröffnet zwischen Tod und Leben ein Niemandsland, eine Zone der Unbestimmtheit in der die Wörter Leben und Tod ihre Bedeutung verloren haben.

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credits

Choreographie: Christoph Winkler | Bühne: Alexander Schellow | Musik: Joseph Suchy, Ekkehard Ehlers, Howard Katz Fireheart | Kostüme: Lisa Tjelma | Tanz: Howard Katz Fireheart, Florian Bilbao, Kristian Breitenbach, Anna Luise Recke, Yael Schnell, Zufit Simon, Tabea Tettenborn, Angelika Thiele, Anat Vadia

Produktion: Christoph Winkler, Sophiensaele und TANZTAGE BERLIN. Gefördert von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur. Mit freundlicher Unterstützung des Eliash

Pressauszüge

"...acht Tänzer schickt der Choreograph auf die karge Bühne. Sie arbeiten, so scheint es hart am Limit des körperlich Machbaren. Da wird gefallen, geworfen. gedehnt. gegrätscht, gehangelt, auf hohe Balken geklettert, sich im Schulterstand verdreht und in yogamäßigen Extrempositionen verharrt, bis es fast nicht mehr erträglich ist, und dann gibt es neue Impulse, die neue Bewegungsmuster und Tempi auslösen. Es ist eine Art physischer Ausnahmezustand, in den die Tänzer unter Winklers Leitung zu gehen bereit sind - ein Exzess der ihnen aus den Poren tritt, und manchmal, nach besonders harten, intensiven Bewegungsparts, ist auf ihren Gesichtern ein Leuchten zu sehen. Diesen Moment mitzuerleben, ist alle Disziplin wert, die es braucht, die achtzig Minuten auf dem harten Zuschauerstuhl zu verharren...Winkler ist nicht Wellness, so viel steht fest. Sein neues Stück "Lazarus Sign" ist anstrengend und sperrig. Es erzählt nicht, beruhigt nicht, und gibt am Ende keine Auflösung der rätselhaften Versuchsanordnungen, die die Körper da an den Rändern der Vernunft vollziehen. Deshalb ist es ein außerordentlich schönes Stück, weil diese Körper so tun, als könnten sie sich selbst vergessen. Für einen Moment nur.- J.Sittnick, taz

"...sehr leise und zuweilen sehr poetisch fragen die Tänzer nach der Bedeutung der Bewegung selbst. Was ist eine unbewusste, eine mechanische Bewegung? Welchen Wert kann eine Bewegung haben, die nicht vom Hirn gesteuert ist? Natürlich können die Tänzer nicht ihr Hirn ‚ausschalten’, aber sie können Bilder evozieren, Bewegungsströmen nachgeben, die unkontrolliert und merkwürdig fremd erscheinen.Eine Frau verdreht zuweilen ihre Arme in bizarre Positionen, ihr Körper wird von hühnerhaften Zuckungen heimgesucht, die nicht enden wollen, die auf Dauer zu einer ganz eigenen Art des Tanzes, die schön werden. Auch das gibt es: Einen tänzerischen Reigen, einen raumwandelnden Gespenstertanz, eine Liebeserklärung an die Bewegung selbst, an ihre Lebendigkeit, worin auch immer sie gegründet sein mag. Winkler meidet alles Eindeutige und erst recht alles Moralisierende. Stattdessen eröffnet er Assoziationsräume. Die Verbindung zwischen dem Thema und dem Geschehen auf der Bühne stellt der Zuschauer allein in seinem Kopf her."- Michaela Schlagenwerth, Berliner Zeitung

"...keine fröhliche Auferstehung wird hier gefeiert. Die Bewegungsimpulse durchzucken den Körper jäh, um sogleich zu ersterben. Statt Fluss und Harmonie sieht man nur sezierte Bewegungen."- Sandra Luzina, Tagesspiegel

"Drei übermannshohe Rahmen und ein paar Bänke bilden Alexander Schellows variables Bühnenbild. Zu Regenrauschen und live erzeugtem Blues lagern darin unbewegt die Tänzer. Mit winzigen, willkürlich wirkenden Rucken von Kopf, Schulter, Arm setzen bei Anna-Luise Recke die Lazarus-Zeichen ein. Andere Tänzer folgen nach. Jeder scheint etwas abzustrahlen, doch kaum jemand empfängt die Signale, nimmt sie wirklich auf, reagiert, verarbeitet sie.In dieser zuckenden Welt der verqueren Drehungen und Auslenkungen, der reproduzierten Fallrutscher, gefechtsartig heftigen Kurzbegegnungen und kleinen Provokationen werden die Rahmen stetig verschoben und geben neue Raumkonstellationen frei. Das lässt den Zuschauer seinen einsehbaren Teil wie auf einem veränderlichen Monitor erleben. Bisweilen stellen sich Assoziationen von Gefangenschaft, Eingepferchtsein her. Überschreiten die Tänzer ihren Rahmen, mag das gleichsam als Symbol des Übertritts von einer Ebene in die andere stehen. Viel meisterhaft originelle Erfindung wendet Winkler für die schier endlose Folge separater Soli auf, reduziert Bewegung oft aufs kaum noch wahrnehmbare Mindestmaß"- Volkmar Draeger, Neues Deutschland