Prof. Dr. Friedrich Kittler- Institut für Ästhetik, Philosophische Fakultät III, Kultur- und Kunstwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin

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Prof. Dr. Friedrich Kittler- Institut für Ästhetik, Philosophische Fakultät III, Kultur- und Kunstwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin

Institut für Ästhetik, Philosophische Fakultät III, Kultur- und Kunstwissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin
Author: Prof. Dr. Friedrich Kittler | text in German only
04 September 1996

Der Text von Prof. Dr. Friedrich Kittler wurde für das Festival “Yaburitsugi” im Rahmen von Klangkrieg zur Verfügung gestellt.

Kriege gibt es, seitdem es Männerbünde gibt. Die Ohren, kaum dass der Lärm vorbei ist, üben gnädiges Vergessen.

Und seitdem gibt es auch jene Kriegsgeräusche, an die man sofort denkt: den Schrei der Kämpfer und das Stöhnen der Sterbenden. Das deutsche Wort ‘Geist’, bevor es unter die Kontrolle christlicher Theologen und griechischer Philosophen geriet, hat vermutlich nichts anderes als jenen Schrei der Kämpfer bezeichnet. Denn Geist war nichts, dass der Kämpfer besaß, sondern etwas, dass den Kämpfer besaß, nachdem er sich mit anderen Berserkern zusammen unter Bären- oder Wolfsmasken lang genug in Ekstase versetzt hatte. Was dann aus seinem schreienden Mund kam, hieß Geifer oder eben Geist, zwei Wörter aus derselben Sprachwurzel. Krieger in jener Vorzeit waren also Männer, die zur Abschreckung der Feinde, vielleicht aber auch ihrer selbst in unmenschliche Rollen hineinwuchsen, um den Lärm von Götterschlachten auf Erden nachzuspielen.

Aber von alledem ist nicht nur nichts überliefert, sondern auch nichts zu sagen. Denn die Schreie der Kämpfer und das Stöhnen der Sterbenden blieben trotz allem im Spektrum der Geräusche, die Menschen auch ohne Krieg machen oder hören.

Mit Arkebusen und Musketen, Mörsern und Kanonen beginnt die lange Serie von Geräuschen, die nur der Krieg macht. Denn erst seit Erfindung der Feuerwaffen genießen Naturkatastrophen nicht mehr das Privileg, Ereignisse auszulösen, die schneller als der Schall sind. Mit Mündungsgeschwindigkeiten, die schon im 19. Jahrhundert weit über 300 Metern pro Sekunde lagen, haben Granaten und Patronen das unvordenkliche Vorrecht von Blitz und Donner technisch eingeholt. Die Augen können keine Flugbahn mehr verfolgen – wie einst bei Lanze oder Pfeil -, so dass an ihre Stelle, spätestens mit Leibniz, die neue Wissenschaft einer mathematischen Ballistik tritt. Die Ohren aber, die doch im Unterschied zu den Augen grundsätzlich offen oder wachsam bleiben. melden die Todesgefahr erst, wenn es längst zu spät ist. Seitdem leben wir, nach Goethes großem Wort, in “einer neuen Epoche der Weltgeschichte”.( 1) (Goethes Feuertaufe)

Goethe also hat den Kanonendonner schon so gehört, als sei er nicht oder nur in Metaphern mitteilbar. Im historischen Augenblick. wo der Krieg technisch wird und das Feuer von Maschinen nicht mehr langsamer ist als das Pelotonfeuer von Soldaten, verläßt er den Bereich der Alltagssprache.

In diesem sprachlosen Raum sind ganze literarische Gattungen, vor allem Epos und Tragödie, untergegangen: an ihre Stelle trat die seit Goethe unaufhörliche Mühsal, mit Wörtern Geräusche zu beschreiben. die die Fassungskraft der Ohren grundsätzlich übersteigen.

Der General, wie um alle Schreie von Kämpfern ihrer modernen Lächerlichkeit preiszugeben, schreit noch: “Das verfluchte Pferd! Wo hast du’s es her?”, aber es kommt zu keiner Antwort. Was den Romanschreiber Stendhal zum Geständnis zwinge, sein Held sei damals bei Waterloo sehr wenig Held gewesen. “Und dennoch stand die Furcht bei ihm erst an zweiter Stelle. Vor allem skandalisierte ihn der Lärm, der seinen Ohren weh tat”.(2)

Waterloo als Geburtsstunde des realistischen Romans markiert also den historischen Augenblick, wo zugleich mit dem Sensorium der Begriff des Helden untergeht. Die Schlacht gleitet aus jeder Zentralperspektive und wird zum Mosaik verstreuter Wahrnehmungen, die Wahrheit überhaupt nicht mehr beanspruchen können. Aber eben sie generieren einen neuen Diskurstyp: den Kriegsroman aus der Frontschweinperspektive. Denn um zu beschreiben, wie einem Hören und Sehen vergehen, ist kein Held mehr nötig und auch sein Dichter nicht, sondern nur “Jeder als dieser Einzelne”, der “sich selbst als absolute Macht (und das heißt zum Verbrecher) macht”.

Wenn nicht einmal mehr die Schreie von Generälen bei blutjungen Kriegsfreiwilligen ankommen, wenn “Geschrei” zwar “laut ausgestoßen”, aber “kaum vernommen” wird (3), muß das Signalwesen selber seine harte Allianz mit dem Ohr kündigen. Erst das neue System des Generalstabs, wie Napoleon und nach ihm alle seine Feinde es einrichteten, führte schriftliche Befehle und über weite Entfernungen hinweg auch eine erste, noch nicht elektrische Telegraphie ein. So gelangte der Krieg auf strategischer Ebene zu einer Unmenschlichkeit oder Stummheit, dem sein artilleristischer Lärm nichts mehr anhaben konnte. Im 19. Jahrhundert, das ja auch bei Post und Eisenbahn die Entkopplung von Nachrichten-, Personen- und Güterverkehr durchsetzte, wurde Stille zum Arkanum der Macht.

Also blieb Moltkes Frontschweinen – ganz wie Wagners gleichzeitiger Isolde – nur der akustische Wunschtraum, mitten in Schlacht und Todesgefahr die Schnittstellengeräusche einer Nachrichtentechnik zu halluzinieren, deren Elektronik die Hörbarkeit überhaupt unterläuft.

Telegraphie und Schreibmaschine waren denn auch die zwei häufigsten Metaphern, die im Ersten Weltkrieg, also seitdem Weiße ihre Maschinengewehre nicht nur gegen Rote. Gelbe und Schwarze, sondern auch gegen Weiße einsetzten, den akustischen Alltag von Schützengräben beschrieben. Als Trommelfeuer oder Feuerwalze jedoch büßte die Artillerie ihr napoleonisches Wesen ein: Sie hörte auf, akustische Einzelereignisse vor einem leiseren Hintergrundrauschen zu produzieren, sondern wurde selber unaufhörliches Rauschen von einer Lautstärke, die an oder über der Schmerzgrenze von Ohren lag.

Ein britischer Soldat beschrieb es so: “Das Geräusch begann nicht, schwoll nicht an, klang nicht ab und endete nicht. Es hing vielmehr in der Luft, ein stehendes Klangpanorama, keine Schöpfung von Menschen.” (4 ) Ganz entsprechend die Beschreibung eines französischen Soldaten: “Das Geräusch war jetzt ferner, lautstärker, dichter, kompakter. Die ganze Atmosphäre bebte. In Schläfen und Zähnen zuckten die Nerven. Und dieses Geräusch nahm nicht zu und nicht ab, denn es war der unermessliche und gleichmäßige Lärm der Schlacht.” (5)

Ein Lärm, der keine Schöpfer und keine Dynamik mehr hat, fällt aber mit seinem Gegenteil, der in den Schützengräben von 1914 auf 1918 allgegenwärtigen sensorischen Deprivation, wieder zusammen. Deshalb kam, in Mythologie und Praxis dieser Schützengräben, alles auf eine neue Schulung der Ohren an, die – streng nach Heinz von Foerster – noch aus dem akustischen Chaos eine Ordnung zu destillieren hatten. Wer überleben wollte, lernte, wie ein Aufsatz der Frankfurter Zeitung von 1915 berichtet, lauter vordem unerhörte Differenzen.

Diese akustische Scheidekunst war um so nötiger, als ihr keine optische zu Hilfe kommen konnte. Kafkas Erzählung „Der Bau“, die Geschichte eines Tiers, das zur Verteidigung gegen unbekannte Feinde nur die Geräuschunterscheidungskünste seiner Ohren hat, entstand unmittelbar nachdem Kafka eine Kriegsreportage über den Minenkrieg von 1916 gelesen hatte.(6)

Allerdings haben Ohren, an der militärischen wie an der literarischen Front, eine eingebaute Grenze: ihren Abstand voneinander. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren Physiologie und Phänomenologie, Stumpf und Husserl in Verein, ja eben zur Entdeckung fortgeschritten, dass Menschen nur deshalb etwas sehen, weil sie zwei abständige Augen haben, und nur deshalb etwas hören, well sie zwei mehr oder minder abständige Ohren haben. Das eine singuläre Sinnesorgan aller philosophischen Überlieferung, wie es bis heute auf jeder Dollarnote prangt, war also theoretisch widerlegt.

Den ersten Schritt tat ein wissenschaftlicher Assistent Carl Stumpfs, der nachmals als Professor der Musikwissenschaft berühmte Erich Moritz von Hornbostel. Er übertrug das Prinzip des Scherenfernrohrs auf die Ohren, schloß also an beide Ohrmuscheln Schalltrichter an, deren Mündungsabstand nicht mehr in Zentimetern, sondern in Metern bemessen war. Und siehe an: die künstlich verbreiterte Ohrenbasisbreite erlaubte es Artilleriebeobachtern an der Westfront, feindliche Batterien auch noch In Kilometerabständen akustisch zu orten.

Auf dieser erfreulichen Grundlage tat dann ein Dr. Ing. Schwab. im Zweiten Weltkrieg übrigens Chef des Technischen Amtes der Waffen-SS, den zweiten Schritt. Er ersetzte die bei Hornbostel immer noch vorhandenen Menschenohren durch Meßgeräte, die Schalllaufzeitdifferenzen automatisch auswerten konnten. Das Geräusch des Krieges, mit anderen Worten, verließ die Menschenohren. Wahrnehmbar in einer Form, die Entscheidungen und Gegenmaßnahmen erlaubte, war es nur noch in Tonaufzeichnungsmaschinen. Und auch wenn “Ohrenzeugen den Gesamteindruck des Schlachtenlärms als ein Höllenkonzert schilderten, wie es schwerlich ein Phonograph festzuhalten vermöchtet”( 7 ) war der Phonograph schon längst zur Stelle.

Das akustische Wunder einer Stille, die nur das undifferenzierbare Rauschspektrum aller beteiligten Artillerie war, warf aber ein Speicherproblem auf. Wörter kamen dafür nicht in Frage. Denn – so Hellingraths britischer Dichterkollege Robert Ranke-Graves in einem Fronturlaubsinterview “you can’t communicate noise. Noise never stops for one moment – ever.”(8)

-Seitdem bleibt über Kriegsgeräusche nichts mehr zu sagen, was nicht auch Meßgeräte anzeigen könnten. Die akustische Unterhaltungselektronik von heute, vom Kopfhörer über High Fidelity bis zur Stereophonie, basiert zur Gänze auf dem Stand von 1945. Was wir über Akustik und Elektronik, in dieser bezeichnenden Kopplung, wissen, geht zurück auf Forschungen, die das größte Psychologielabor des Zweiten Weltkriegs angestellt hat: das Laboratorium für Psychoakustik und Elektroakustik an der Harvard Universität.


  • 1) Goethe, Campagne in Frankreich. Sämtliche Werke (Jubiläums-Ausgabe), hrsg. Eduard von der Heilen. Stuttgart-Berlin 1905, Bd. XXVIII. S. 60.
  • 2) Stendhal, Chartreuse, S. 621.
  • 3) Christian Dietrich Grabbe. Napoleon oder die hundert Tage, Akt V. Szene 3. In: Werke in einem Band, hg. Walther Vontin, 2. Aufl. Hamburg o.J., S. 463.
  • 4) Winter, Death’s Men, S. 175 (meine Übersetzung).
  • 5) “C’était un son plus lointain, plus ample, plus dense, plus compact. Toute l’atmosphère vibrait. Les tempes et les dents en étaient énervés. Et ce son-là ne croissait, ne diminuait, car c’était le tumulte immense et régulier de la bataille.” Zitiert Behrens/Karstien, S. 81.
  • 6) Vgl. Wolf Kittier, Die Geburt des Partisanen, …
  • 7) Behrens/Karstlen, S. 7.
  • 8) Zitiert bei Paul Fusselt, The Great War and Modern Memory. New York-London 1975, S. 171.