Aus der Reihe getanzt
Julia, 14, leidet an einer Psychose, die Stück für Stück das Familienleben zerstörte. Der Pflegevater erzählt die Geschichte – auf der Bühne und im realen Leben.
Wenige Stunden war sie alt, als er sie zum ersten Mal sah. Julia* hieß sie und war das Baby seiner Ex-Freundin Susann*. Zweieinhalb Jahre war er mit Julias Mutter zusammen gewesen, bevor er sich von ihr getrennt hatte, weil er ihre Aggressivität nicht mehr ertrug. Und ihren Alkoholkonsum.
Das Baby, das er nun im Arm hielt, sollte trotzdem sein Kind werden. Seine Pflegetochter Julia.
Wie es dazu kam und wie es weiterging mit Julia, Susann und ihm selbst, erzählt der Berliner Choreograf Christoph Winkler in seiner neuen, sehr persönlichen Inszenierung. „La fille – Portrait eines Kindes“ heißt sie und hat am Donnerstag Premiere. Julia wird dargestellt von Emma Daniel, einer 22-jährigen Tänzerin aus Frankreich. Ein Ausschnitt aus den Probenarbeiten: Das Kind greift in die Kiste und zieht ein silbernes Krönchen heraus. Mit einem Lächeln befestigt es das Mädchen auf dem Kopf und beginnt zu tanzen, mit Anmut und Hingabe, den Rücken selbstbewusst gereckt. Doch plötzlich gerät es ins Stocken, beginnt schwer zu atmen. Die Musik setzt aus. Das Kind nimmt das Krönchen ab und beginnt im Kreis herumzuwirbeln, schneller und schneller, ohne eine Grenze zu finden. Dann fällt es erschöpft auf die Knie, fasst sich an den Brustkorb.
Es streicht sich wieder und wieder die Haare nach hinten, als würde es sich tröstend streicheln. Doch darauf folgt ein verstörtes Kopfschütteln, lästig scheint die Hand auf dem Kopf zu sein. Das Mädchen steht auf, läuft ziellos herum – und greift schließlich nach einem Zettel.
Eine Kamera projiziert an die Leinwand, was darauf steht. Es ist der Auszug aus einer Krankenakte. Freiwillig sei das Mädchen in die Notaufnahme gekommen, heißt es. Von belastenden Beziehungsabbrüchen ist die Rede, der mangelnden Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, und von depressivem Verhalten.
Christoph Winkler sitzt am Rand des Proberaums in den Uferhallen in Wedding, neben sich den Laptop, mit dem er das Ein- und Aussetzen der Musik steuert. Mit unbewegtem Gesicht hat er die Bewegungen der Tänzerin Emma Daniel verfolgt, die das Mädchen darstellt. Es ist seine dritte Zusammenarbeit mit der Französin aus Perpignan – und seine persönlichste. Im der Tanzproduktion „La Fille“ setzt sich der Choreograf mit der Geschichte seiner Pflegetochter Julia auseinander, die zugleich seine eigene ist. Es ist die Geschichte einer komplizierten Vater-Tochter-Beziehung, eine vom Erwachsenwerden – und von einer schwerwiegenden psychischen Beeinträchtigung. Bei Julia wurde schon in frühen Kinderjahren eine Bindungsstörung diagnostiziert. Sie machte das Zusammenleben letztlich so schwierig, dass Christoph Winkler seine Pflegetochter vor eineinhalb Jahren in eine therapeutische Wohngruppe abgab. Abgeben musste.
„Es ist auch mein Leben“
2832 Kinder leben in Berlin in Pflegefamilien. Es kommt häufiger vor, dass Pflegeverhältnisse abgebrochen werden, sagt Ellen Hallmann, die bei „Familien für Kinder“ Pflegeeltern auf ihre Aufgabe vorbereitet. Sie weiß um die Schwierigkeiten – und die Emotionen, die bei einer Trennung aufkommen. Um Ärger, Wut, Trauer, Hilflosigkeit (siehe Interview auf Seite 3).
Christoph Winklers Pflegetochter Julia ist heute 14 Jahre alt und der Pflegevater hat den Abstand, von seiner und Julias verzweifelten Situation zu erzählen. Nicht nur auf der Bühne, mithilfe von Tänzerin Emma, sondern auch mit Worten.
„Als Künstler muss man sich selbst reinwerfen, über Dinge reden, die sich andere nicht zu sagen trauen“, erklärt der 47-Jährige. Bewusst subjektiv soll seine Berichterstattung sein. „Was ich zeige, ist meine Perspektive“, konstatiert er fast trotzig, „das muss Julia aushalten. Es ist nicht nur ihr Leben. Es ist auch mein Leben.“
Eine solche Aussage erfordert Mut. Zumal Christoph Winklers Botschaft von Liebe und Schmerz, von Sorge und Zweifel, vom Halten und Loslassen nicht nur das Publikum erreicht, sondern auch die Pflegetochter. Sie wird sehen, was ihr Ziehvater zu sagen hat. „Die Julia kommt immer gucken, wenn ich eine Aufführung habe“, sagt Winkler.Lesen Sie weiter auf den Seiten 2/3
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Sein Telefon klingelt. Susann ist dran, die Mutter von Julia. Ob er etwas von Julia gehört habe, will sie wissen. Es ist nichts Neues, dass der Pflegevater mehr weiß als die leibliche Mutter. Winkler beruhigt Susann, vertröstet sie auf später. Er legt auf und erhebt sich, reibt sich das Kreuz. Der Rücken schmerzt.
„Das erste Jahr nach der Geburt lief eigentlich ganz gut mit Julia und ihrer Mutter“, erzählt er weiter. „Dann begann sie wieder zu trinken und bat mich um Hilfe.“ Winkler fing an, Dinge mit der Kleinen zu unternehmen: Ausflüge zum Rummel, zum Mittelaltermarkt. Er war die konstante Bezugsperson, wenn andere Männer die kleine Familie wieder verließen oder Susann mal wieder verkatert war und ihr Kind nicht ertragen konnte.
Warum er die Verantwortung übernahm? „Naja, so ein Verhältnis zu einem Kind wird ja schnell eng und mein Beschützerinstinkt war geweckt“, sagt er. Vielleicht verspürte er auch Glück darüber, endlich mal gefragt zu werden und mitbestimmen zu dürfen. Zwei Freundinnen von ihm, erzählt Christoph Winkler zögernd, hätten ohne sein Wissen Kinder von ihm abgetrieben, erst viel später habe er davon erfahren. Susann jedoch traute ihm zu, seine Karriere als Tänzer und Choreograf und die Sorge um ein Kind verbinden zu können.
Und Julia erst. Sie war vier, als sie Christoph Winkler fragte: „Willst du nicht mein Papa sein?“ Man sieht noch heute das Glück in Winklers Augen, wenn er davon erzählt, wie er zustimmte. Schwierig war es dennoch für alle. Julia fühlte sich hin- und hergerissen, zwischen Mutter und Tochter entwickelte sich große Aggressivität, zwischen leiblicher Mutter und Pflegevater entstand Konkurrenz. „Susann wusste, dass Julia gut bei mir aufgehoben war, und sie hat mich dafür geliebt und gehasst“, sagt Winkler. Als Julia sieben war, zog sie endgültig bei ihrem Wunschpapa ein und machte ihn zum alleinerziehenden Vater.
Mit fließenden Bewegungen schwebt das Mädchen zu den Tönen der klassischen Musik. Vor der Leinwand dreht es sich ruckartig um, die traditionellen Ballettschritte gehen in einen betont lässigen Hip-Hop-Gang über. Boxend schreitet es aufs Publikum zu, dann zeigt es aufreizende Posen, um schließlich ins Stadium eines Grimassen schneidenden Kleinkind zurückzufallen. Lustig sieht das aus. Nein, böse kann das nicht gemeint sein. Das ist Spiel, Fantasie, Lebenslust, das regt zum Lachen an. Aber es verstört auch. Wer ist dieses Mädchen? Was will sie? Weiß sie überhaupt, was sie will?
Mit Emma Daniel hat Christoph Winkler eine hervorragende Darstellerin von Julia gefunden. Das kleine Kind nimmt man ihr genauso ab wie den Teenager, virtuos wechselt sie von einem Tanzstil zum nächsten. Und ihr Gesicht: Niedlich kann es schauen genauso wie orientierungslos oder verletzt. Aber auch bitterböse.
„Ich muss für diese Produktion viel Ärger entwickeln und setze viel meine Fäuste ein, das mache ich normalerweise nicht“, sagt Emma Daniel. „Auch richte ich mich viel an das Publikum, weil Julias Emotionen sich gegen die Leute um sie herum wenden.“ Woher sie das weiß? Die 22-Jährige hat einiges über Bindungsstörungen gelesen, auch Arztberichte über Julia. Doch das meiste kommt aus ihrem Körper, intuitiv. Christoph Winkler lässt sie machen. „Ich lasse meinen Tänzern Raum, vertraue ihnen. Ihr Instinkt löst die Aufgabe und führt auf Wege, die ich selbst nicht prognostizieren kann.“
Von der Tochter lernen
Als er jünger gewesen sei, da habe er mehr Kontrolle gewollt, sagt Winkler. Je älter er werde, desto mehr merke er, dass man sich am besten einfach inspirieren lasse. „Das Stück sagt einem, wo es hin will. Es wird klüger als man selbst.“ Es könnte sein, dass es nicht nur das Alter ist, das Christoph Winkler das gelehrt hat, sondern auch Julia.
„Wohl alle Eltern haben ein Wunschbild, wie sich ihr Kind entwickelt, und dass es glücklich wird“, sagt er. Das habe er natürlich auch. Aber er habe seine Lektion gelernt. Dass man bestimmten Dingen ihren Lauf lassen muss, sie nicht ändern kann. So wie sein Leben mit Julia, das schnell außer Kontrolle geriet.
Christoph Winkler hatte die Siebenjährige in einer Privatschule in seinem Bezirk angemeldet, wo sie schnell durch ihre Aggressivität auffiel. „Der Rektor hat mich fast jeden Tag angerufen.“ Auch gegenüber ihm sei Julia zunehmend provokativ und ausfallend geworden, habe ihn regelrecht in Konflikte hineingedrängt. „Vor meinen Augen kippte sie ihr Getränk aus, rastete bei kleinsten Anlässen aus, das morgendliche Aufstehen wurde zu einem Ringkampf mit physischer Gewalt.“
Christoph Winkler übte mit Julia Beruhigungsrituale ein, schließlich suchten sie Ärzte auf, eine Verhaltenstherapie wurde angestoßen. Der Schlüsselsatz, sagt Christoph Winkler, sei von einem Kinderpsychiater gekommen. „Der hat mit aller Deutlichkeit gesagt: ‚Das ist so, das geht auch nicht weg. Dieses Haus ist auf einem wackligen Fundament gebaut.’“
Der Choreograf, der jetzt als Vater spricht, setzt sich wieder auf seinen Stuhl. Er, der die Beziehung zu Julias Mutter wegen deren Bindungsunfähigkeit und Aggressivität abgebrochen hatte, war nun wieder mit diesen Verhaltensweisen konfrontiert. „Die Frage, ob ich das leisten kann, ob ich der Richtige bin, stellte sich immer wieder“, sagt Christoph Winkler leise. Er selbst war es, der sich diese Fragen stellte. Dabei ist er keiner, der sich schnell aus der Ruhe bringen lässt, der nur ein harmonisches Familienleben kennt. Er selbst ist ein Scheidungskind, seinen Vater beschreibt er als gewalttätig.
Doch da waren eben auch diese schönen Momente mit Julia. Dann war sie lieb, nett, bemüht. Christoph Winkler nahm sie zu Auslandsengagements mit. Ägypten, Moskau, Montreal. Auch in der Schule lief es nach einem Schulwechsel besser , und Julia bekam schließlich sogar eine Gymnasialempfehlung. Sie sei sehr sprachbegabt, lerne schnell Instrumente und zeichne ausnehmend gut, sagt Christoph Winkler mit Stolz.
Das Mädchen öffnet im Tanz beide Arme weit. Die Geste ist eindeutig: Es will sich öffnen, etwas von sich geben und gleichzeitig empfangen. Doch gerät sein Körper immer wieder ins Stocken, bewegt sich vor und zurück, die Mimik deutet Ratlosigkeit an. Schließlich schleppt das Mädchen zwei Heuballen herbei, legt sie in die Mitte des Raumes und lässt sich dort nieder. Ein Moment der Ruhe.
Heuballen und Hühner auf der Bühne, die Musik von Ferdinand Hérold: Das Ballett „La fille mal gardée“, zu deutsch: „Die schlecht behütetete Tochter“, dient Christoph Winkler als Referenz für seine Arbeit „La fille“. 1789 wurde das Stück als „Strohballett“ in Bordeaux uraufgeführt und gilt als das erste realistische Ballett. Es handelt von einem Mädchen, das sich den Plänen seiner Mutter widersetzt und in Lebens- und Liebesdingen ihrem eigenen Willen folgt. Doch statt Stringenz und strenger klassischer Gestaltung gibt es in „La fille“ Brüche und Ausbrüche – so wie in Christoph Winklers realem Leben mit Julia.
Lügen und betrügen
Mit Einsetzen der Pubertät, sagt der Pflegevater, sei die Situation eskaliert. Lügen, Diebstahl, Aggressivität, immer wieder. Julia habe auch begonnen, sich zu ritzen. Um ihn dann mit sadistischem Blitzen in den Augen zu fragen: „Das tut dir jetzt im Herzen weh, oder?“ Dann riss sie aus, hinterließ einen Brief: „Such mich nicht, du findest mich nicht.“
Sie selbst war es, die wiederkam und sich auf die Schulbank setzte, als sei nichts gewesen. Das war der Moment, in dem Christoph Winkler mit ihr zum Jugendamt ging. „Ich konnte nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren.“ Julia kam in ein Krisenzentrum, nach vier Wochen in eine therapeutische Wohngruppe. Der Dammbruch. Ab diesem Moment sei sie kaum noch in die Schule gegangen und ständig über Nacht abgehauen, oft zu ihrem deutlich älteren Freund. Schließlich habe die Pflegegruppe das Verhältnis beendet.
Julia, erzählt der Pflegevater, habe jetzt einen Platz in einer Jugendwohngruppe in Aussicht. Zur Schule gehe sie nicht, beteuere aber, sich anstrengen zu wollen, um dann wieder zu ihm zurückziehen zu können, sagt er. Seine Miene wirkt starr. „Wenn sie etwas erzählt, hat das alles keine Substanz. Alles fließt so dahin. Man kennt ihre Agenda nicht wirklich.“
Er strafft die Schultern. „Ich habe jetzt alles durchlebt“, sagt er, „die ganz schönen Momente bis dahin, wo ich mich gefragt habe: Was mache ich hier?“ Nun sei der Punkt erreicht, wo er selber nicht mehr könne, einen guten Ausgang für sich suchen müsse. Die Tür für Julia stehe immer offen, aber es gebe Bedingungen und Grenzen. Manchmal frage er sich: Hätte man das nicht schon früher beenden sollen?
Hat er durch seine Arbeit an „La fille“ eine Antwort gefunden? Er lächelt. Nein. „Dafür hätte ich ja eine Frage stellen müssen.“ Christoph Winkler ist keiner, der lange grübelt oder vor Angst oder Selbstzweifeln vergeht. Lieber wandelt er seine Sorgen in Aktion um. In Organisation und Gespräche mit Julia und ihrer Mutter. Mit Ämtern, Ärzten, Erziehern, Lehrern, Polizisten, die mit für Julia Sorge tragen sollen. Und in seine künstlerische Arbeit.
„Ich denke, Julia braucht Zeit“, sagt er. „Jedes Kind hat das Recht, Fehler zu machen und sich auf eine Bahn zu bringen, die wir Erwachsene nicht für gut halten.“ Für ihn wäre es eine Erfolg, wenn Julia auf der Schule bliebe und lernen würde, ihre Aggressionen in den Griff zu bekommen. Ihm sei klar: Das schlechte Gefühl in Julia, das werde immer bleiben. Und er? Im Unreinen mit sich sei er nicht, sagt er.
Tänzerin Emma Daniel wischt die verschwitzten Haarsträhnen beiseite, die sich aus ihrem Zopf gelöst haben. Die Probe ist beendet. Wirkliches Verständnis, sagt sie, könne sie für Julia nicht entwickeln. Deren Ambivalenz sei schon sehr extrem. „Wenn ich sie träfe, würde ich versuchen, ihr zu helfen.“ Aber ob sie es könne, da sei sie sich nicht sicher.
*Namen geändert