Bewegliches Heer von Metaphern

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Bewegliches Heer von Metaphern

Choreograph Christoph Winkler stellt heute im Theater am Halleschen Ufer sein Stück „Berst” vor
Author: Franz Anton Cramer | text in German only
26 January 2001

Vor allem will er kein System. Christoph Winkler, Tänzer und Choreograph, kennt die Starrheit vorgefaßter Lehrmeinungen, die Unerbittlichkeit.’ von Regelwerken und das Erdrückende von Traditionslasten zur Genüge aus eigener Erfahrung. Denn er war ein Spätberufener. Vorgesehen für eine DDR-Musterkarriere als Schienenfahrzeugbauingenieur, bewarb sich der gebürtige Torgauer kurz vor seiner Abiturprüfung, im wesentlichen aus Neugier und einer Portion Aufmüpfigkeit, an der Staatlichen Ballettschule in Berlin — und wurde prompt angenommen. Dabei hatte er noch nie einen Ballettsaal von innen gesehen.

Mit Prädikatszeugnis in der Tasche, Strafreden seiner Gönner im Ohr und der glücklichen Befreiung vom Militärdienst durchlief er dann den üblichen Drill. Nach Streitigkeiten mit Schuldirektor Martin Puttke, die ihn fast das Abschlußdiplom geestet hätten, wechselte es zum etudiengang Choreographie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Auch dort kam er mit dem kumpelhaften Regime des DDR-Veteranen Dietmar Seyffert nicht zurecht und entfloh in die Provinz, wo er an mehreren Stadttheatern arbeitete. Erst 1998 wagte er den Schritt, sich in Berlin als freischaffender Choreograph niederzulassen.

Frappierend an Winklers Recherchen ist der unbändige Ernst, mit welchem er Bewegungen zerlegt, analysiert, kombiniert und transmutiert. Winkler betreibt einen mathematisch präzisen Arbeitsprozeß weit entfernt von aller Improvisation. Tanz sei nun mal eine ernste Angelegenheit, sagt Winkler und verweist auf Nietzsche, der im Tanz nicht weniger sah als eine Metapher des Denkens beziehungsweise im Denken einen Tanz der Gleichnisse („Was ist Wahrheit? — ein bewegliches Heer von Metaphern”). Zwischen Zarathustras „Tanz-Wuth” und Nietzsches In:vektiven gegen Richard Wagner, in denen der Bayreuther Formationstanz der Schwere als säbelrasselndes Zusammentreffen von „Gehorsam und langen Beinen” verspottet wird, spannt sich ein weites Feld.

Winkler hat also durchaus konzeptuellen Ehrgeiz. Jedoch, so der Unerschrockene im Gespräch, sehe er sich keinesweg als Teil jener defätistischen „Nullpunkt-Fraktion“, die Tanz aus konzeptueller Not im Geiste der Performance neu erfindet. Er ist vielmehr zum Glauben an die Mög-lichkeit einer eigenständigen, rationalen Kunstform Tanz fest entschlossen. „Oft weicht man dieser Frage aus, weil es natür-lich unerhört schwer ist, nach 300 Jahren Kanonbildung Tanz neu zu denken und zu entwickeln. Wie soll man bloße Imitation vermeiden? Geräde für diese Schwierig-keiten, für diese intellektuelle Zerflei¬schung muß man aber tänzerische Umset¬zungen finden. Und das wiederum heißt, mit Sepp Herberger gesprochen: Entscheidend ist auf dem Platz. Was machen die Tänzer wirklich? Was ist formal zu sehen? Wie bewegen sie sich genau? Doch da bleibt es eben gern in bekannten theatrali¬schen Mustern. Oft sieht man doch bloß eine Art entkerntes Tanztheater.“

Mit solchen Aussagen macht sich Winkler im bisweilen argwöhnischen Tanzmilieu natürlich nicht nur Freunde. Zumal er noch weiter geht Er glaubt, „seine Richtung” gefunden zu haben. Ab heute be-steht die Möglichkeit, diese Einschätzung zu überprüfen, denn im Theater am Halle-sehen Ufer ist nach einjährigen Vorarbeiten Premiere von Winklers neuestem Stück „Berst”. Skizzen in Form von Solo¬arbeiten wurden im Frühjahr in der Potsdamer „fabrik” sowie in der Kreuzberger Tanzfabrik gezeigt, wo Winkler zur Zeit Artist in Residence ist Motivische Anleihen aus weiteren Projekten der vergangenen Jahre sind ebenfalls nicht zu übersehen. Bereits in dem Solo „FAQ (Frequently Asked Questions)” für Staatsopernsolistin Bettina Thiel war es um die Suche der klassischen Tänzerin nach ihren „eigenen” Bewegungen gegangen, eine Art motorische Recherche, die alle Geschwindigkeit der Bewegung auf seltsame Weise ungerührt am Körper vorüberziehen ließ. In „Fatal Attractions”, ebenfalls 2000 entstanden, fanden sich drei Tänzerinnen zu rätselhaften, ebenso dynamischen wie unbeteiligten Formationen zusammen, die wie kreisende Planeten auf ruhiger Bahn dahinziehen, bis „seltsame Attraktoren” das stabile System durcheinanderbringen — in diesem Fall eingespielte Videodokumente und Erinnerungsberichte. Tanz wurde gleichsam zum meteorologischen Phänomen, wobei Sprache und Bewegung gleichermaßen die unterkühlte Atmosphäre bildeten.

Seine detailversessene Arbeit an jener prekären und eben darum kostbaren choreographischen Balance zwischen Zitat, Aufrichtigkeit und Effekt konnte Winkler jetzt durch eine senatsgeförderte Arbeitsphase erstmals auf ein sechsköpfiges Ensemble ausdehnen. Nach achtwöchiger, intensiver Probenarbeit („Bei mir muß jede Bewegung gelernt werden”) tragen profilierte Tänzerinnen der freier, Szene mit biographischen Lippenbekenntnissen, nachhallenden Bewegungsfragmenten und choreographischer Konzentrik jene intellektuellen Körperlinien in den Bühnenraum ein, an denen sich die Geister scheiden. Zu spröde! sagen die einen; kompromißloser Aufbruch ins Neue! entgegnen die anderen. Wie so oft stimmt beides. Diesem dialektischen System entkommt Winkler trotz aller Recherche nicht.