Für Ein Ende Der Extreme

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Für Ein Ende Der Extreme

Openings | Sophiensaele 2011-2021
Autor: Christoph Winkler
27 March 2024

Meine ersten Schritte als Tänzer habe ich in der ostdeutschen Provinz zusammen mit lokalen Breakdance-Crews und Amateurtanzgruppen gemacht. Wenn dort Ober Tanz gesprochen oder geschrieben wurde, hieB es meistens, die Crew habe „saubere” Moves oder jemand hatte eine „tolle” Polka. Gelegentlich tanzte jemand „anmutig” oder eine Gruppe „riss” das Publikum mit. Das war nicht immer die eloquenteste Sprache, aber zumindest stand das Tanzen selbst im Mittelpunkt der Beschreibung.

Nachdem ich Jahre später Teil des Theaterbetriebes geworden war, fiel mir auf, dass dort nun ganz anders Ober Tanz und Theater gesprochen wurde. Plötzlich traf man auf die Extremperformerin, den Ausnahmechoreografen, die Provokateurin, den Stückezertrümmerer oder Berserker. Startänzer und Wunderkinder tauchten auf, sogar Magier und Forsten. Die Figuren erinnerten eher an den Cast einer burlesquen Freakshow als an Menschen, die an einem Ort arbeiten, an dem sich die Gesellschaft Ober sich selbst verständigen will.

Nun hat bereits Robert Musil in seinem Roman Mann ohne Eigenschaften den Ausdruck „ein geniales Rennpferd” zum Anlass genommen, sich ironisch Ober den damaligen Zeitgeist auszulassen. Allerdings konnte er noch nicht ahnen, dass sich der Wesenszug des Genialen hundert Jahre später fast ausschließlich im Theater finden wurde. Die Superlative, umgeben von der Aura des Radikalen, wollen einfach nicht verschwinden und es scheint, dass die Kunst und das Theater ein guter Ort für diese sind.

Während meines Studiums habe ich Bann oft Menschen getroffen, die diesen Diskurs verinnerlicht hatten. Das Publikum war eigentlich immer der „Feind”. Es sollte mindestens gefordert, gerne auch überfordert werden. Man versuchte Grenzen auszuloten oder zu überschreiten. Erwartungshaltungen waren prinzipiell negativ und sollten unterlaufen werden, und wenn das nicht gelang, sollte doch zumindest eine „Grenze” verschoben werden. Natürlich klappte das nie, oder man griff auf die banalsten Effekte wie Nacktheit und Kunstblut zurück und freute sich, wenn ein paar ältere Herrschaften dann tatsächlich den Saal verließen. Während meines Studiums der Choreografie nötigte uns ein bekannter deutscher Choreografieberserker permanent, auf die Köpfe unserer Duettpartner*innen zu steigen, denn wir müssten „zu Extremen greifen, um beim Publikum Wirkung zu erzielen”. Nun wollte ich aber auf niemandes Kopf steigen müssen, um Wirkung zu erzielen, sondern für mich stellte sich eher die Frage, woher dieses Denken kommt und warum der Diskurs über Theater so von Überhöhungen und konfrontativen Argumenten geprägt ist. Dabei möchte ich Transgression und Grenzübertretungen als künstlerisches Mittel gar nicht prinzipiell in Frage stellen. Von Marquis de Sade über Artaud bis hin zur Body Art gab es immer Künstler*innen, die durch ihre Arbeit die Grenzen dessen verschoben haben, was erlaubt war darzustellen, und so dazu beigetragen haben, Gesellschaften offener zu gestalten. Diese Arbeiten waren oft disruptiv und haben Dynamiken in Gang gesetzt, die ganz wesentlich das bestimmen, was „wir” für Kunst halten. Ich würde nun aber behaupten, dass diese Strategien in den letzten drei Jahrzehnten zunehmend profanisiert wurden und damit heute eher problematisch sind.

Nun würde wahrscheinlich jeder zustimmen, dass in einer Welt, in der man Menschen dabei zusehen kann, wie sie Flugzeuge in Hochhäuser fliegen oder anderen Menschen die Kehle durchschneiden, das Wort „extrem” im Zusammenhang mit theatralen Aktionen unangebracht zu sein scheint. Ja, dass der Zusammenhang von Radikalität und Kunst prinzipiell nicht mehr sinnvoll her-gestellt werden kann. Das Verschieben der Grenzen der Darstellung von Extremen, die man in medial geprägten Gesellschaften sieht, ist sicher kein „Erfolg”. Der Fakt, dass sich Menschen dabei filmen, wie sie andere Menschen töten, geht mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht darauf zurück, dass in der westlichen Kunst Extremperfomer*innen Kühe aus Hubschraubern geworfen und Tänze in Hühnerblut aufgeführt haben. Vielleicht hat beides seinen Ursprung in etwas Gemeinsamem, tiefer Liegendem und das sollte viel eher für Unruhe sorgen. Stockhausens Bemerkung über 9/11 als „größtes Kunstwerk aller Zeiten” wurde leider völlig aus dem Kontext gerissen, zielt aber in genau diese Richtung. Wie gehen wir damit um, dass auf die Losung „Tötet Helmut Kohl” „Hängt Angela Merkel” folgte? Oder was sagt es über die Kunst aus, dass erst Theaterleute und dann Wutbürger den Reichstag stürmen? Kann man das immer mit den unterschiedlichen Intentionen erklären?

Es gibt bereits jetzt künstlerische Mittel, bei denen Konsens darüber besteht, dass sie nicht geeignet sind. Wenn beispielsweise nach Luft schnappende Fische in die Luft geworfen werden oder mittels Blackfacing Minderheiten diskriminiert werden, erscheint völlig klar, dass selbst wohlmeinende Intention nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass im Grunde nur ein Akt der Gewalt wiederholt wird. Nun ist das bei den eben genannten Beispielen relativ klar ersichtlich, doch bei vielen Performances bleibt es weniger eindeutig. Ironisierungen und Kontext leisten da oft ganz Erstaunliches.

Auf der anderen Seite gibt es gerade bei vielen jungen Künstler*innen eine ganz starke Sehnsucht nach einem anderen Verhältnis zum Publikum oder den “Communitys”, und diese speist sich meinem Empfinden nach auch aus einem Misstrauen gegenüber der bisherigen Kunstpraxis.

Damit kein Missverständnis aufkommt, es geht mir nicht darum, Grenzbereiche aus der Kunst auszuklammern, sondern man muss verstehen, dass der westlichen Kunst mit der Transgression ein Element eingeschrieben ist, das einerseits eine große Dynamik freisetzt, aber eben auch Ambivalenzen kreiert. Diese Tendenzen vermischen sich mit Resten eines tief im Patriarchat verwurzelten Geniekultes und generieren Erzählungen der Auserwähltheit oder Überhöhungen der künstlerischen Praxis.

Nachdem beispielsweise die katastrophalen Zustände an Wiener und Berliner Ballettschulen offengelegt wurden (man bedenke, dass die Polizei eine künstlerische Ausbildungsstätte quasi stürmte), wurde geschrieben: Ballett sein nun mal die härteste Ausbildung der Welt und nicht für jeden geeignet. Hier kommt Kunst offensichtlich von Härte und nur Auserwählte werden ihr gerecht. Aber auch im Konzept des „artist as change agent” blitzt ein Narrativ der Auserwähltheit auf: die künstlerische Praxis als Leitmodell der Lebensführung für die Gesellschaft, mehr Übermensch geht nicht. Es werden Dinge an die Kunst herangetragen, die sie vielleicht nicht immer lösen kann. Das schafft nicht nur ein Unbehagen bei den Künstler*innen, sondern es setzt auch komparative Strukturen in Szene.

Dass dieses Element der Kunst bei weitem nicht universell ist, sondern typisch westlich, wird einem klar, wenn man mit Künstler*innen aus anderen Kulturen zusammenarbeitet.

Während der Diskussion mit einer Gruppe von Schwarzen Kolleg*innen über eine Performance für Tiere als Publikum, zuckte einer nur mit den Schultern und sagte: „White people”. Darin lag eine gewisse Verwunderung, aber diese Äußerung macht auch klar, dass es einen Blick von außen auf westliche Kunst und ihre Narrative gibt. Dieses Aufnehmen des Außenblickes stellt für mich deshalb eine der Chancen von Dekolonialisierung im Theater dar, weil es ein Hinterfragen der eigenen Prämissen bedeutet.

Ich möchte dafür nun noch kurz zwei Beispiele geben: Das erste behandelt unser Verhältnis zur Autorschaft. Der nigerianische Regisseur und Choreograf Segun Adefila erzählte mir, wie sehr es ihn immer wieder verblüfft, dass westliche Festivals darauf bestehen, seinen Namen als Autor seiner Arbeiten zu nennen. Dabei sind die Tanzschritte, welche er benutzt, hunderte von Jahren alt. Selbstverständlich verändert er diese und fügt eigene Varianten hinzu, aber es käme ihm nie in den Sinn, sich als Autor dieser zu bezeichnen. Dahinter offenbart sich ein ganz anderes Verständnis von künstlerischer Arbeit. Man betont eher die Arbeit, die bereits vor einem von anderen geleistet wurde, und stellt darüber dann die Verbindung zur Tradition her. Auf diese Art wird eine lange Reihe von gleichwertigen Künstler*innen in Beziehung gesetzt. Wir dagegen lesen die Kunstgeschichte eher als das Aufeinanderfolgen von Ausnahmetalenten und vernachlässigen die Kontinuität jeder künstlerischen Entwicklung. So wird unter anderem eine Dynamik der formalen Neuerfindung in Gang gesetzt, welche im Tanz beispielsweise zu der Suche nach den „eigenen” Bewegungen führt. Man nimmt also aus der Menge aller dem Menschen potenziell möglichen Bewegungen einige heraus und versucht sie mit dem eigenen Namen zu verbinden. In der realen Welt des zeitgenössischen Tanzes führt das zu einer geradezu aberwitzigen Menge an Stilen und Körpertechniken, welche meistens ein oder zwei Aspekte von Bewegung betonen und somit zu einer über Ausschluss funktionierenden Dynamik führen.

Das zweite Beispiel betrifft eine Arbeit der jungen Choreografin Jahra Wasasala von den Fidschi Inseln, die sie im Rahmen des Witch Dance Project 2016 in den Sophiensaelen aufgeführt hat. Teil ihrer Performance war das symbolische Trinken aus der Kaya, einer Holzschale, welche im Mittelpunkt des Kaya-Rituals steht. In der Kultur der Tonga ist dieser Akt nur Männern vorbehalten, während eine unverheiratete, junge Frau sie bewirtet. Das Trinken aus der Kava-Schale während des Stückes stellte daher eine Übertretung dar.

Nun erfolgte das in einer Weise, die von großem Respekt vor der Ritualhaftigkeit des Vorganges zeugte, und war in eine Performance eingebettet, die sich elegant zwischen den verschiedenen Tanzkulturen hin und her bewegte und insgesamt von einer großen Sensibilität zeugte. Die Choreografin berichtete, dass die Grenzübertretung nie als Provokation gemeint sei, sondern immer das Ziel habe, die Community der „Ocean People” zu vereinen. Dieser Aspekt, dass Transgression eben auch fähig ist, Communitys zu vereinen, anstatt nur auf Disruption zu setzen, enthält vielleicht einen Hinweis darauf, wie mit Grenzübertretungen auch umgegangen werden kann. Für das westliche Publikum war diese Geste formal viel zu klein. Es fielen dann Kommentare wie: „Da sind wir hier schon weiter”, und mit dieser Aussage wurde genau das Problem formuliert, was ich hier versucht habe darzustellen: Weiter womit?