„Ich will dem Tanz etwas zumuten“:

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„Ich will dem Tanz etwas zumuten“:

Ein Porträt des Berliner Choreografen Christoph Winkler
Autor: Sandra Luzina | text in German only
10 October 2022

Christoph Winkler ist ein Maniac. Er ist nicht nur einer der produktivsten Choreografen der freien Berliner Tanzszene, sondern auch einer der vielseitigsten. Mehr als 80 Tanzstücke hat er in den letzten 26 Jahren geschaffen. Sein inhaltliches Spektrum ist beachtlich: Es reicht von politischen und philosophischen bis zu persönlichen Themen. Oft sind es auch Musiker, die den 55-Jährigen zu seinen Tanzperformances inspirieren.
Der aus dem sächsischen Torgau stammende Winkler hat schon mehrere Preise erhalten. Am 15. Oktober wird er bei einer Gala in Essen mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet – zusammen mit dem Choreografen Marco Goecke, der Ballettdirektor des Staatsballett Hannover ist.

Psychische Belastungen an der Ballettschule

Er freue sich natürlich über die Anerkennung, sagt Winkler. „Aber natürlich bleiben meine Lebens-und Arbeitsumstände gleich, das heißt: Anträge stellen, Sachberichte schreiben, bangen um die nächste Förderung..“ Immerhin: Seine Company erhält noch bis 2023 die vierjährige Konzeptförderung des Berliner Senats. Winklers Weg war nicht eben geradlinig. Als Jugendlicher war er mehrfacher Spartakiadesieger im Gewichtheben und Judo.n„Mit 14 habe ich meinen Ruf gehört als Tänzer“, erzählt er. Er hat dann an der Sprossenwand in der Sporthalle die ersten tänzerischen Übungen gemacht, während die anderen Jungs Gewichte stemmten.1986 begann er eine dreijährige Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin – da war er 19 und hatte schon ein Einser-Abitur in der Tasche.
„Das war eine Katastrophe!“, sagt Winkler, „die Psychotouren, die die machen.“ Es gehe darum, dass Kinder psychisch verletzt werden. Das ganze System Ballett hält er für hochproblematisch – und damit meint er nicht nur die Tanzausbildung in der DDR. Winkler verschweigt nicht, dass er mit dem damaligen Schulleiter Martin Puttke aneinandergeraten ist. „Das endete mit einem Eklat!“
Als er kurz nach dem Fall der Mauer von der Schule abging, stand er ohne Engagement da. „Dann habe ich mir eine leerstehende Wohnung nebenan aufgemacht, einen Spiegel reingehängt, eine Stange rangemacht und habe da für mich selber trainiert.“ Er tauchte ein in den Underground, trat in Technoclubs auf und wirkte bei MTV-Videos mit.
An der Ernst-Busch-Schule begann er dann ein Choreografie-Studium. Zum Glück traf er dort Holger Bey, der viel choreografierte für seine kleine Compagnie – ihm hat er assistiert. Da habe er das erste Mal erlebt, dass jemand ernsthafte Fragen an den Tanz stellt, erzählt Winkler.
Nach dem Studium versuchte er, an Stadttheatern zu arbeiten. „Aber ich merkte schnell, dass ich da nicht hinpasse.“ Also entschied er sich, als freischaffender Choreograf zu arbeiten – nur folgerichtig für einen unabhängigen Geist wie Winkler. Der Musik-Aficionado las nun die Popzeitschrift Spex, studierte die französischen Poststrukturalisten – und lernte auch das westliche Modell von Tanz kennen. Damals kam der Konzepttanz gerade in Mode – ein Ansatz, dem Winkler nicht viel abgewinnen konnte. „Ich vertraue dem Tanz. Ich will ihn nicht in Frage stellen, ich will ihm etwas zumuten“, sagt er mit Überzeugung.

Derzeit arbeitet Winkler mit sieben Tänzer:innen an seiner neuen Produktion

Er gibt ein Beispiel: In dem dokumentarischen Tanzstück „On Hela“ hat er seine eigene Krebserkrankung verarbeitet; diese konfrontiert er mit der Geschichte der Afroamerikanerin Henrietta Lacks, deren Zellen die Medizin revolutionierten. Die HeLa-Zellen stehen heute für Rassismus und Ungerechtigkeit in der Medizingeschichte. Ungerechtigkeit – das ist ein Thema, das ihn umtreibt. Bei der interaktiven Webseite „environmental-dance.com“, die er im April freigeschaltet hat, geht es ihm um Klimagerechtigkeit. Auch mehrere afrikanische Choreografen haben Videos beigesteuert.
Auch auf das Thema Gagengerechtigkeit kommt Winkler zu sprechen. Er hat sich mittlerweile seine eigenen Arbeitsstrukturen aufgebaut und ein internationales Netzwerk geknüpft. Unter dem Dach seiner Company bringt er Performer:innen aus aller Welt zusammen. Er legt viel Wert darauf, sie fair zu bezahlen. „Je höher meine Förderung,desto höher ihr Salär.

„Spex“ und Poststrukturalisten

Es ist transparent, jeder weiß, was ich bekomme. Den Tänzer Ahmed Soura unterstützt er dabei, in Burkina Faso ein Produktionshaus aufzubauen. Und als er für das Video „We are going to Mars“ 120 Tänzer in Kampala engagierte, hat er ihnen eine Tagesgage von 200 Euro gezahlt, wie es hierzulande gang und gäbe ist – statt der 2 Euro, die dort üblich sind. Doch wie ist sein Selbstverständnis als weißer Mann, wenn er beispielsweise mit Tänzern aus Afrika ein neues Stück erarbeitet? Steht da nicht das Thema Rassismus und „weiße Vorherrschaft“ im Raum? Klar gebe es da heute eine Sensibilisierung, erzählt Winkler. Machtunterschiede seien aber erst in den letzten fünf, sechs Jahren zum Thema geworden, erzählt Winkler. Anfangs wollte er unbedingt seinen eigenen Stil etablieren; heute beteiligt er die Performer:innen am kreativen Prozess. „Ich mache die künstlerische Leitung, das Konzept und halte dramaturgisch Kurs. Alles, was auf der Bühne zu sehen ist, wird von den Tänzer:innen kreiert.“ Er sei sehr glücklich, so viele Anregungen zu bekommen, sagt Winkler. „Das macht die tänzerische Sprache unendlich reicher.“ Und selbstironisch fügt er hinzu: „Es hält ja auch frisch im Alter.“