Choreographie einer Radikalisierung

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Choreographie einer Radikalisierung

RAF-Terror und Stalinorgel: Die Tanzplattform in Dresden überzeugt mit politischen Stücken und neuer Konzeption
Author: Dorian Weickmann | SZ
18 April 2024

Martin Eifler ist der Tanzflüsterer des Staatsministers für Kultur und Medien und deshalb der Liebling der Branche. Auf der Biennale des zeitgenössischen Schaffens, der Tanzplattform in Dresden, kam der Referatsleiter gleich am Rand des ersten Panels zum Einsatz. Wollen wir das Ballett ins Gegenwarts-Portfolio des Tanzes eingliedern, fragte sich die Szene selbst – und wer muss dann bei wem antichambrieren, die Klassizisten bei den Avantgardisten oder umgekehrt? Derart pubertäre Hackordnungs-Rangeleien animieren kaum zu finanziellen. Streicheleinheiten. Angesichts des Familienzwists hielt sich Eifler denn auch diplomatisch bedeckt, wenn es um einen. Zusatzobolus zur Aufhübschung künftiger Tanzplattformen ging. Dabei hat die aktuelle Festival-Ausgabe, ausgerichtet vom Europäischen Zentrum der Künste in Dresden-Hellerau, bewiesen, dass die zeitgenössischen Hardliner keinen Grund haben, den Stiefbruder Ballett auszugrenzen. Die Leistungsschau präsentierte fast durchweg sehenswerte Produktionen aus den letzten zwei Jahren und belehrte jeden eines Besseren, der den Gegenwartstanz für künstlerisch minderbemittelt hält. Die fünfköpfige Jury hat nicht nur überzeugende Top Ten nominiert, sondern die Besten-Auswahl um „Pitching” -Runden ergänzt, in denen die ab Platz 11 Gelisteten zum Zug kamen. Nicht alle Kandidaten schienen indes kapiert zu haben, dass es sich hier um ein Werbeformat und keine Mini-Performance handelt. Zufit Simon ging mit ihren Mick-Jagger-Groupie-Allüren deshalb genauso baden wie Kat Välastur mit einer verblasenen Schnitzeljagd auf Odysseus’ Spuren.

Umso erfrischender fiel die PR-Aktion von Silke Z. aus, die ein Crossover-Projekt aus Tanz, TV und Theater so bombastisch anpries, als müsse demnächst Hollywood an ihrer Kölner Haustür anklopfen. Als kluger Schachzug erwies sich auch die Dreingabe der Veranstalter, die das Jury-Spektrum erweiterte. Vier Mega-Gastspiele wurden eingekauft — William Forsythe, Constanza Macras, Sasha Waltz und Meg Stuart mit ihren eigenen Kompanien — und hoben die Tanzplattform in eine bis dato unbekannte Dimension. Erst dieses Quartett der Ensemblespieler rundete nämlich den Blick ins Tanzschaufenster zur Trendschau.

Sasha Waltz’ prachtvolle „Metamorphoses” lieferten eine Hommage an Hellerau, die Wiege des deutschen Ausdruckstanzes. Ohne je in die Historisierungsfalle zu tappen, übersetzt die Choreographin das Erbe der 1920er Jahre ins Heute und heftet ihren Akteuren expressive Bewegungsgirlanden an. Meg Stuarts „Violet” zündet dagegen wie eine Stalinorgel.

Fünf gewalttätig verkapselte Akteure rotieren eine Stunde lang bei trommelfelltraumatisierender Lautstärke. Verschraubte Körper und vernagelte Blicke erinnern an jene Hysteriker, die sich im Fin de Siäcle vor den Kameras medizinischer Fotografen produzierten. Zuletzt türmen sich monotone Hand-, Bein-, Fuß-Manierismen zu einer Welle der Destruktion, die vor nichts Halt macht.

Ist Stuarts Stück ein Anschlag auf alle Sinne, so taugt Antonia Baehrs „For Faces” als optische Heilfastenkur. Ein Mann und drei Frauen halten dem Publikum nichts als ihre Gesichter entgegen, die wie Rembrandt-Veduten aus dem Dunkel leuchten.

Ein Seufzen hier, ein Schmollmund da, zeitlich so nanosekundengenau getaktet, dass olympische Synchronschwimmer vor Neid erblassen müssen. Ein bisschen snobbish ist das allemal, und eine aufschlussreiche Publikums-Installation obendrein. In Ermangelung echter Action wird im Beobachter-Rund an Krägen, Hosen, Nasen genestelt oder wahlweise ein Stündchen gedöst.

Dafür hält Christoph Winklers „Baader – Choreographie einer Radikalisierung” selbst den geübtesten Theaterschläfer wach.

Winklers Annäherung an den Topterroristen der 1970er Jahre war der Festival-Höhepunkt, weil an dramaturgischer Dichte, tänzerischer Klasse und Inszenierungsintelligenz sämtlichen Konkurrenten voraus.

Zu Wagner-Klängen spulen zwei Screens ein Baader’sches Familienalbum ab, bevor im Spot ein Mensch geboren wird, dessen. Leib schon beim Durchstoßen der Fruchtblase zum Panzer wird. Alles, was den RAF-Terror kennzeichnete – die narzisstische Hybris der Stadtguerilla, ihr Pistolero-Gehabe und den teutonischen Romantizismus, der zwischen Blutbad und Sexorgie keinen Unterschied macht -packt Winkler in eine biographische Meta-Erzählung, die das Schreckgespenst Baader als Kind seiner Zeit entlarvt.

Martin Hansen munitioniert diesen Maulhelde, der sich den Körperfaschismus einer Leni Riefenstahl genauso überstreift wie die Marlboro-Man-Mystik des Klassefeinds – ein selbst ernanntes monstre sacre, dem Ficken und Töten ein- und dasselbe ist.

Anno 1968 ff. scheint sich auch das Choreographen-Trio Mandafounis/Mazliah/Zarhy am wohlsten zu fühlen, das unter dem Slogan „Mamaza” ein Kinderladen-Anarcho-Spektakel veranstaltet, Furzen, Schnäuzen, Popeln inklusive.

Malou Airaudo wiederum und ihre Truppe Renegade spielten in „Irgendwo” eineinhalb Stunden lang West-Wuppertal-Story, wie es sich für eine Ex-Bausch-Tänzerin ziemt.

Bei der Plattform prallten solche Street-Dance-Attacken gegen Anja Konjetzkys klaustrophobischen „Abdrücke”-Horror: Eine Frau in Unterwäsche kreiselt zwischen verspiegelten Kubuswänden, als wäre Sylvia Plaths Jahrhundertroman „Die Glasglocke” zum Tanz erwacht.

Ausweglos ist die Lage der Künstlerin, die eingesperrt wider das Erlöschen kämpft. Nur ein paar Kritzelbotschaften verlassen durch Atemschlitze den Kerker – ein monomanisches Bild für Isolationsfolter und weibliche Demütigung, überall auf der Welt.

Das Sahnehäubchen der Tanzplattform aber lieferte William Forsythe in der Semperoper. Wer hier „Artifact Suite” und „Enemy in the Figure” wieder begegnet ist, der kann den Tanzplattform-Machern nur eins ins Stammbuch schreiben.: Ballett gehört dazu. Unbedingt!