It’s all forgotten now
A performative Mixtape for Mark Fisher
2020
Über das Stück
Im Januar 2017 nahm sich der britische Kulturwissenschaftler und Poptheoretiker Mark Fisher das Leben. Einem breiteren Publikum wurde er durch seine Schrift „Capitalist Realism“ bekannt worin er sich mit der weitverbreiteten Auffassung es gäbe keine Alternative mehr zur kapitalistischen Realität auseinandersetzt. Fisher diagnostiziert ein kulturelles Erschöpfungssyndrom, dass aus dem Zusammenbruch von Zeitlichkeit hervorgeht: Das Ende der Welt kann man sich vorstellen, das Ende des Kapitalismus nicht.
Während die technologische Entwicklung durch das Internet und die zugehörigen Kommunikationsgeräte einer schwer begreiflichen Beschleunigung unterliegt, hat der kulturelle Fortschritt sich bis zum Stillstand verlangsamt.
Folgerichtig sieht Fisher die Zeichen der Erschöpfung nicht nur im politischen und kulturellen Betrieb neoliberaler Gesellschaften sondern auch auf emotionaler Ebene. In den Gesichtern seiner Studenten, in apokalyptischen Filmsets von Hollywood oder Reality Shows. Damit wollte er sich nicht abfinden und forderte immer wieder Widerstand:
“The tiniest event can tear a hole in the grey curtain of reaction which has marked the horizons of possibility under capitalist realism.”
Fisher analysierte seltene Jungle Platten, obskure Soundtracks, genauso wie Filme oder Bücher zeitgenössischer Autoren. Ein von ihm zusammengestellter Musikmix hatte denselben Stellenwert wie ein Essay.
Mit diesem Projekt versuchen wir nun ein performatives Mixtape zu kreieren welches sich mit einigen Aspekten und Konzepten Mark Fishers auseinandersetzt.
Phänomene wie Hauntology oder das Seltsame und Rätselhafte (the weird& the eerie) drücken sich nicht nur politisch sondern auch ästhetisch aus. Sie finden ihren Ausdruck in Musik, Film und Tanz und sind der Ausgangspunkt für das Stück.
Auf Grund der Coronakrise konnten viele Tänzer*innen der Kompagnie nicht anreisen, sind aber von außen zugeschaltet. Sie sind die „Gespenster“ dieser Arbeit und werden virtuell Teil der Aufführung. Ein Umstand der Mark Fisher sicher gefallen hätte.
videos
credits
Konzept & Choreografie: Christoph Winkler | Tanz: Lois Alexander, Lisa Rykena, Michael Gagawala Kaddu, Raha Nejad, Kevin Lau | Video contributions: Aloalii Tapu, Joshua Faleatua, Robert Ssempijja - Dance Revolution East Africa, Bria Bacon, Symara Sarai Johnson | Videodesign: Matthias Härtig, Gabriella Fiore | LED Programmierung und Installation: Sven Beyer & Frieder Weiß | Kostümassistenz: Marie Akoury | Produktionsleitung: Laura Biagioni | Technische Leitung: Fabian Eichner
Eine Produktion der Company Christoph Winkler in Koproduktion mit SOPHIENSÆLE. Gefördert durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa und vom Fonds Darstellende Künste aus Mittel der Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien. Medienpartner: taz.die tageszeitung. Kooperationspartner: Schalldruckberlin
Termine
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14. - 20. Juni 2021DringebliebenVideo on demand
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23. – 29. November 2020SophiensaeleOnline Premiere
Pressauszüge
[…]Christoph Winkler arbeitet mit nicht-weißen Tänzern aus aller Welt zusammen. Das ist sein Versuch, im Feld des zeitgenössischen Tanzes eine postkolonial Perspektive zu etablieren. An dem neuen Projekt sind etwa Performer aus Kampala, New York und aus Australien beteiligt. Die Hälfte seines Ensembles kann aber wegen der aktuellen Reisebeschränkungen nicht nach Berlin kommen. Winkler hat deshalb nach Möglichkeiten gesucht, wie die vier Perfomer doch noch an dem Stück mitwirken können, auch wenn sie körperlich nicht anwesend sind. Er hat sie beauftragt, Videos zu Themen zu produzieren. Die vier Tanzvideos gehen am Tag vor der Premiere online. Während der Aufführung werden Ausschnitte aus den Videoarbeiten Wand aus LED-Panels gezeigt.„Das Material, das da verarbeitet wird, wird in anderer Form auch in die Live-Performance fliessen. Das ist ineinander verzahnt."
Das Stück ist ein Mix aus Video, Sound, Tanz, Spoken Word Poetry, auch Texte von Mark Fisher kommen vor. So nehmen Winkler und seine Perfomer auch den den Geisterforscher Fisher und sein Konzept der „Hauntology“ in den Blick, das an Jacques Derrida angelehnt ist. Es geht da um Ideen, die die Gegenwart wie Geister aus der aus der Vergangenheit heimsuchen.„So ist unser Leben strukturiert: Dinge die nicht wirklich sind, haben trotzdem einen großen Einfluss“, sagt Winkler. „Fisher greift den Begriff Gespenster auf und fragt: Wo ist er in der Popkultur?“Auch Fishers Faszination für „das Seltsame und Rätselhafte*(the weird & the eerie) spüren die Performer nach. Einige der Musiksticke, die Mark Fisher besprochen hat, wurden ausgewählt; es sind aber auch Sounds zu hören,die das zeitgenössische Aquivalent dazu bilden, erläutert Winkler. Spannend an dem Projekt ist auch, dass die Tänzer einen ganz unterschiedlichen Hintergrund haben. „Ich habe diesmal einen traditionellen afrikanischen Tänzer dabei, eine Hip-Hop-New-Style-Tänzerin und auch zeitgenössische Tänzer. Jeder löst die Aufgaben auf seine Weise.“ Ein depressiver Abend wird es nicht: Das Stück ist sehr bildstark. Und dank der tollen Performer es ist auch eine Feier der Diversität. SPIELZEIT, Sandra Luzina
Hochfrequenz-Börsenhandel ist nur ein Beispiel dafür, dass Zeitlichkeit in der heutigen Welt einen Zusammenbruch erlitten hat: Für eine Analyse von Transaktionen, die Computer in drei Minuten ausführen, benötigen Fachleute drei Monate. Der 2017 verstorbene Kulturwissenschaftler und Poptheoretiker Mark Fisher diagnostizierte in seiner Flugschrift „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?” ein kulturelles Erschöpfungssyndrom, das er auf die unkontrollierbare Dynamisierung von Zeit zurückführte: Die Vorstellung vom Ende der Welt erscheint heute vielen realistischer als das Ende des Kapita- lismus. Christoph Winkler, seit 1998 freischaffender Polit-Choreograf in Berlin, mit langjährig gewachsenem, außereuropäischem Ensemble und kontinuierlichem Gespür für aktuelles Zeitgeschehen, widmet Fisher nun das performative Mixtape „It 's All Forgotten Now”. Gemeinsam mit zehn Performer*innen möchte er live und, aufgrund Corona-bedingter Einreisebeschränkungen, auch per Videoübertragung die assoziativ-essayistische Arbeitsweise von Fisher im Tänzerischen aufgreifen. Sicher wie gewohnt nicht ohne den nötigen Humor. Der „Pandemie der seelischen Leiden” gilt es schließlich aktiv etwas entgegenzusetzen. TANZRAUMBERLIN, Christine Matschke
[…]In der von den Sophiensälen in Berlin koproduzierten Arbeit »It’s All Forgotten Now - A Performative Mixtape for Mark Fisher« treten Text und Bewegung in einen verzerrten Austausch. Nichts steht in einfacher Übersetzung zueinander. Auf der fast leeren Bühne bewegen sich die fünf Tänzer*innen vereinzelt zu düsterer elektronischer Musik. Ergänzt werden sie durch im Hintergrund abgespielte Videoarbeiten, die sich auf dem glatten Fußboden spiegeln. Zerstückelt durch schwarze Balken erscheinen dort die Tänzer*innen, die nicht anreisen konnten, als Gespenster der Produktion. Die mal von Performer*innen eingesprochenen, mal eingespielten Texte bilden zu den Arbeiten nur den kontextuellen Rahmen. In den nach unten ziehenden Gesten, denen jede Leichtigkeit fehlt, tritt Fishers Blick auf die Postmoderne und den Kapitalismus pointierter zutage als in den Exzerpten seiner Texte.
Besonders eindrücklich wird dies in der entstellten Kopie einer Clubszene. Der erwarteten Ekstase beraubt, tritt Freude nur maskenhaft auf die Gesichter der Performer*innen. Hinter dem gezwungenen Lächeln des 21. Jahrhunderts lauert eine verborgene Traurigkeit, so schreibt Fisher in seinem Essay »Graue Welten: Darkstar, James Blake, Kanye West, Drake und ›Party Hauntology‹«. Die erhoffte euphorische Befriedigung stellt sich im eskapistischen Vergnügen nicht (mehr) ein, heißt es in dem Text aus dem Sammelband »Gespenster meines Lebens«. Fisher zufolge fasste niemand diese hedonistische Traurigkeit wie der Rapper Drake in seinem Song »Marvin’s Room«. Klagend stellt der fest: »We threw a party / yeah we threw a party«, wir haben eine Party geschmissen. Darin steckt eine verleugnete Leere, die sich in schnellem Vergnügen nicht auflösen lässt. Exzess wird vielmehr zu Pflicht, Feiern zur Arbeit. Die sisyphushafte Erschöpfung setzt sich großartig in der angestrengten Schwere in den Bewegungen der Tänzer*innen fort. Vereinzelt mühen sie sich nebeneinander ab. Ein Austausch miteinander findet im performten Individualismus nicht statt. Dadurch entsteht in der Disharmonie zur Musik eine inkommensurable Traurigkeit ohne Katharsis. Brillant wird so eine deprimierende Grundstimmung in der Einsamkeit auf der Bühne transportiert, die sich ebenso durch das Werk von Fisher zieht.
[…]Utopistische Kollektivität wird in der Performance bewusst ausgelassen. Die Tänzer*innen erscheinen einerseits als vereinzelte Individuen auf der Bühne, werden aber auch zur Verkörperung uneingelöster Visionen. In den Gesten Lisa Rykenas, die wie eine untote Futuristin erscheint, zeigt sich das besonders präzise. Immer wieder richtet sie sich auf, versucht etwas zu greifen und sackt im Versuch in sich zusammen. Die verlorene Zukunft ist, wie der Sand, der den Performer*innen durch die Hände rinnt, nicht mehr zu fassen. Bedrohlich spitzt sich dies zum Ende zu, wenn Särge als manifestierte Gespenster auf die Bühne getragen werden. Dieses düstere Bild findet keine optimistische Auflösung. Es lässt sich aber wenigstens gegen den Titel des Abends sagen: Nicht alles ist vergessen. Neues Deutschland, Lara Wenzel
[…]“It’s All Forgotten Now” wird als performatives Mixtape bezeichnet und bringt, neben viel Tanz und Musik, auch Videos und Spoken-Word zusammen, die nicht nur Fisher, sondern auch andere Künstler und Denker, u.a. Derrida, zitieren. Von dem unscharfen Video, das eine Hafenstadt als ein Kapitalismussymbol zeigt, bis zu der ergreifenden Musik von jenen wie King Midas Sound oder Caterina Barbieri, ist jedes Detail liebevoll durchdacht und gibt die bedrückende, dunkle, verzweifelte aber immer nach Alternativen suchende Gedankenwelt von Fisher ästhetisch und atmosphärisch wieder. Es ist zu spüren, wie sehr Winkler sich für Fisher begeistert. Der rote, glitzernde Sand, der von den Händen von Tanzer*innen auf den Boden fließt, erinnert an die Zeit und Vergänglichkeit, und zwar nicht nur als Themen von Fisher, sondern auch als symbolische Trauer um ihn.
[…]Der fasziniert in allen Ebenen. Als eine Verinnerlichung der Sehnsucht nach Zukunft, als Erinnerung an das solidarische Miteinander alter Rave-Parties, die in dieser Form nicht mehr existieren, aber auch jenseits jedweder Kontextualisierung. Alle fünf schwarz bekleideten Tänzer*innen auf der dunklen Bühne unterscheiden sich in ihrer Körpersprache sehr, aber eins haben sie gemein: Ihre zuckenden, mit dem Rhythmus der Musik pulsierenden Körper bewegen sich so, als ob sie sich in einer nicht existierenden Welt nach einer Existenz sehnen. Als ob sie die Musik verinnerlicht haben, selber zur Musik wurden und jetzt als abstrakte Wesen eine konkrete Form suchen, um auf die Welt zu kommen. Aber die Zeit der Geburt kommt nicht. Und sie pulsieren weiter wie geisterhafte Menschenmaschinen bis sie irgendwann bewegungslos sind und die Zuschauer*innen mit einer hallenden Stille allein lassen – und mit der Frage, ob eine Zukunft frei von Fesseln der Nostalgie möglich ist. Ob wir uns nach vorne bewegen können, oder immer wieder von vergangenen Mustern und Traumata heimgesucht werden müssen. Tanzschreiber, Seda Niğbolu